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Kölner Experte über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine„Es geht einfach darum, dass die Leute aufgeben“

Lesezeit 8 Minuten
Forensic technicians exhume the bodies of civilians who Ukrainian officials say were killed during Russia’s invasion and then buried in a mass grave in the town of Bucha, outside Kyiv, Ukraine April 13, 2022. REUTERS/Volodymyr Petrov

Butscha im April 2022: Vor der orthodoxen Kirche öffnen Forensiker ein Massengrab mit den Opfern der russischen Besatzung.

Vor zwei Jahren hat Russland die Ukraine überfallen und begeht seither massive Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung. Der Kölner Rechtsanwalt Andrej Umansky, ehrenamtlich Mitarbeiter der Organisation „Yahad-in Unum“, dokumentiert Aussagen von überlebenden Opfern und anderen Zeugen.

Was sind Kriegsverbrechen?

Im deutschen Völkerstrafgesetzbuch ist das klar definiert: Wo vorsätzlich die zivile Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wird, ob durch Bombardierungen, durch das Ausnutzen als menschliche Schutzschilder, durch Angriffe auf zivile Infrastrukturen, da liegen Kriegsverbrechen vor. So sehen das auch viele andere moderne westliche Staaten.

Politiker um Sahra Wagenknecht sagen: So schlimm das ist, in Kriegen kommt das vor. Also soll die Ukraine sich den russischen Forderungen unterwerfen, dann enden Krieg und Kriegsverbrechen. Ist das so?

Nein. Viele Verbrechen an Zivilisten geschehen in besetztem Gebiet, hinter der Front. Allein unser Verein Yahad-in Unum hat mittlerweile über 300 Opfer befragt. Wir sehen, diese Verbrechen gibt es überall. Es sind keine Exzesstaten einzelner Einheiten, sondern es passiert überall, wo Orte besetzt sind. Das führt zu der Annahme, dass das eine Strategie ist, um Druck auf die Zivilbevölkerung auszuüben.

Nun sind im ersten Jahr des Krieges große Gebiete befreit worden, in denen Sie dann die Menschen fragen konnten, danach aber kaum mehr. Wie kommen Sie jetzt an Informationen?

Es ist heute nicht mehr so einfach, aus den besetzten Gebieten herauszukommen wie in den Anfängen des Krieges, aber es gibt immer wieder Zivilisten, die es schaffen. Und viele Ukrainer haben Kontakt zu Angehörigen, die unter russischer Besatzung leben. Ein weiteres Thema sind ehemalige Kriegsgefangene: Sie wurden zum Teil in schlimmsten Gefängnissen untergebracht, sind schlimm behandelt worden und berichten darüber, wenn sie durch einen Austausch zurückkehren.

Man will sie gefügig machen, zur Kollaboration veranlassen oder einfach ihre Persönlichkeit zerstören, damit sie keinen Widerstand leisten.

Welche Rolle spielen Sexualverbrechen?

Davon sind Frauen ebenso betroffen wie Männer. Zivilpersonen etwa, die für Kleinigkeiten wochen- oder monatelang festgehalten, von FSB-Mannschaften verhört und gefoltert wurden. Dabei spielt sexuelle Gewalt eine Rolle. Man will sie gefügig machen, zur Kollaboration veranlassen oder einfach ihre Persönlichkeit zerstören, damit sie keinen Widerstand leisten.

Was können das für Kleinigkeiten sein? Das Singen eines ukrainischen Liedes?

Wir hatten den Fall einer Frau, im Sommer 2022 in der Südukraine, die einfach an eine Hauswand geschrieben hatte: Der Sommer ist da. Das wurde als Aufruf zum Widerstand wahrgenommen. Ebenso gefährlich waren kritische Äußerungen über die inszenierten Referenden zum Anschluss der besetzten Gebiete an Russland. Oder ja, jemand sang ein Lied oder hatte ein ukrainisches Buch bei sich.

Es geht einfach darum, dass die Leute aufgeben und nicht mehr daran glauben, dass ihre Gebiete wieder ukrainische werden.

Befürchten Sie, dass das bei der russischen Präsidentschaftswahl im März so weitergeht?

Absolut, das ist die übliche Strategie. Und sie macht vor Kindern und Jugendlichen nicht Halt, auch sie werden inhaftiert. Es geht einfach darum, dass die Leute aufgeben und nicht mehr daran glauben, dass ihre Gebiete wieder ukrainische werden.

Will Russland so auch seine demographischen Probleme lösen?

Nun, Russland ist auch so ein großes Land mit einer Vielzahl ethnischer Gruppen. Aber wir kennen aus der Geschichte der Sowjetunion den Ablauf, wenn man Gebiete annektiert: Es werden unglaublich viele Menschen aus Russland dort hingebracht und angesiedelt. So hat es die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg auch im annektieren östlichen Teil Polens gemacht.

Würden Sie das russische Vorgehen als genozidal bewerten?

Ich denke, dass es Anzeichen dafür gibt. In der modernen Interpretation des Völkermordes geht es ja nicht um die Zahl der Todesopfer, sondern um die Intention, eine ethnische, nationale oder kulturelle Identität auszulöschen. Dazu tragen zum Beispiel die Deportationen bei, die wir ja massenhaft erleben. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es daneben – im internationalen Recht und im deutschen Völkerstrafgesetzbuch – denn Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht. Die wiegen ebenso schwer, und sie finden statt. Wir erleben einen systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung. In jedem Dorf etwa bei Kiew oder Charkiw, in dem die Russen nur ein paar Wochen waren, wurden Männer wahllos erschossen, Frauen vergewaltigt, Menschen festgehalten und verhört, Häuser geplündert. Also ein systematisches, flächendeckendes Vorgehen.

Wie arbeitet Ihrer Organisation?

Yahad-in Unum ist in Frankreich entstanden und hat sich anfänglich mit deutschen Besatzungsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges beschäftigt. Wir haben über 8000 Menschen in der Ukraine und anderen Ländern Osteuropas befragt – über Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung, an Roma und Sinti. Mit Hilfe von Zeugen haben wir nach Massengräbern gesucht – die NS-Massenmorde in der Ukraine fanden ja durch Erschießen statt. Wir haben eine eigene Befragungsmethodik entwickelt und sind dann gebeten worden, auch andere Fälle von Völkermord und Massengewalt aufzuklären. In Guatemala, dann auch im Irak. Wir haben mehrere hundert Jesiden interviewt und das Material auch an Strafverfolgungsbehörden gegeben. Als Russland die Ukraine überfiel, war es für unseren Gründer Pater Patrick Desbois und auch für mich keine Frage, dass wir dort tätig werden müssen. Ich selbst bin in Kiew geboren und habe dort Angehörige, für mich war die Sache erst recht klar. Wir haben entschieden, das zu tun, was wir am besten können: Zeugenaussagen sammeln von Opfern und auch von Unbeteiligten. Anfangs ging das per Videokonferenz, seit letztem Jahr arbeiten wir auch direkt vor Ort. Was mich dabei sehr beeindruckt hat: Die Menschen wollen über das sprechen, was ihnen widerfahren ist. Auch wenn sie Opfer schwerster Verbrechen sind. Wir haben nicht das Problem, das wir die Menschen erst zum Reden bringen müssen. Es ist umgekehrt, die Menschen bitten uns, ihre Aussagen zu verwenden, damit endlich Gerechtigkeit geschieht.

Yahad in Unum - Opferbefragung in der Region Kiew, Herbst 2023

So arbeitet Yahad in Unum: Zeugenbefragung in der Region Kiew, Herbst 2023

In welchem Verhältnis steht das zur Arbeit von Staatsanwaltschaften und internationalen Behörden?

Wir konzentrieren uns auf Zeugenberichte, weil dort unser Know How liegt. Wir arbeiten nicht mit Bildern und Geodaten, das werten andere aus. Wir versuchen, direkt am Ort des Verbrechens zu arbeiten. Wir waren letzten Herbst in Cherson. Wir haben mehrere solcher Zivilisten vor Ort in dem Untersuchungsgefängnis interviewt, in dem sie gefoltert wurden. Diese Menschen haben uns zeigen können, in welcher Zelle sie festgehalten worden sind, wo der Folterraum war, wer sich im Tagesverlauf wo aufhielt. Das heißt, wir arbeiten die Topografie des Verbrechens auf. Ein anderes Beispiel sind Luftangriffe wie auf den Bahnhof von Kramatorsk. Hier gibt es jeweils Dutzende Personen, die den Ablauf unabhängig voneinander aus ganz verschieden Perspektiven schildern können. Strafverfolgungsbehörden sind für unsere Material sehr dankbar, aber es geht auch um die Bekämpfung russischer Propaganda, die nach jedem Angriff behauptet, man habe militärische Ziele im Fokus gehabt, und das wird dann ja auch bei uns in den Medien zitiert. Leider nimmt international das Interesse an diesen Vorgängen ab, NGOs ziehen sich eher zurück. Wir treffen nicht oft auf Menschen, die uns sagen, sie seien schon befragt worden und hätten bereits Strafanzeigen erstattet. Im Gegenteil. Sie sind froh, wenn wir ihnen zuhören. Ich muss übrigens sagen: Die deutsche Justiz arbeitet vorbildlich. Sie hat sowohl die Verbrechen an den Jesiden verfolgt, und auch jetzt wenden Bundeskriminalamt und Bundespolizei das Universalrechtsprinzip konsequent an. Das ist ein Signal an Russland: Die können nicht einfach auf das Kriegsende warten, sondern jeder russische Soldat, jeder russische Offizier wird es sich sehr genau überlegen müssen, ob er später wieder in den Alpen Ski fahren oder in Nizza Strandurlaub machen will. Denn er könnte verhaftet werden – aufgrund eines Haftbefehls aus Deutschland.

Von vielen Menschen wissen wir nicht, ob sie noch leben, ob sie nach Russland verschleppt wurden, ob sie inhaftiert sind – oder tot.

Lässt sich die Zahl der getöteten Zivilisten abschätzen?

Das ist sehr schwierig. Beispiel Mariupol: Wir wissen nicht, wie viele Menschen lebendig begraben wurden, als die Russen das Theater bombardierten, in dem sie Schutz gesucht haben. Die Stadt ist russisch besetzt, die Besatzer haben den Tatort planiert. Sie haben Beweismittel vernichtet. Und in den Dörfern wurden viele zu Tode gefolterte Menschen in Massengräber gebracht. Auch hier sind viele noch unbekannt. Von vielen Menschen wissen wir nicht, ob sie noch leben, ob sie nach Russland verschleppt wurden, ob sie inhaftiert sind – oder tot.

Russland wirft der Ukraine seinerseits Angriffe auf Zivilisten etwa in Belgorod vor.

Nach meiner Einschätzung ahndet die ukrainische Armee rechtswidriges Verhalten. Sie ist hier den Standards in Nato-Armeen viel näher als denen der sowjetischen und späteren russischen Armee, in der ja auch die Soldaten selbst nicht wert sind, wo sie misshandelt werden und wo von ihnen erwartet wird, dass sie entweder siegen oder sterben, aber nicht in Gefangenschaft gehen. Man muss aber auch sagen: Wo immer Russland der Ukraine Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht vorgeworfen hat, ist man die Beweise schuldig geblieben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat ja auf den angeblichen Abschuss eines Flugzeugs mit Kriegsgefangenen ganz richtig reagiert: Das sollte eine internationale Kommission aufklären. Tatsächlich lässt Russland aber keine unabhängigen Experten an den Ort des Geschehens.

Dr. Andrei Umansky, Rechtsanwalt, Köln

Dr. Andrej Umansky, Rechtsanwalt, Köln

Yahad-in unum – der Name ist aus dem hebräischen Begriff für „Zusammen“ und dem lateinischen „in einem“ kombiniert – wurde 2004 von dem französischen Priester und Judaistik-Professor (Georgetown University) Patrick Desbois gegründet. Ziel war damals die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Morde an Juden, Sinti und Roma in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern: Die Organisation wollte und will mit Hilfe von Zeugenaussagen die Tatorte des Massenmordes identifizieren. „Wir haben eine eigene Befragungsmethodik entwickelt und sind dann gebeten worden, auch andere Fälle von Völkermord und Massengewalt aufzuklären. In Guatemala, dann auch im Irak“, berichtet der in Kiew geborene Kölner Anwalt Andrej Umansky, der Mitgründer und Mitarbeiter der Organisation. Die Aufarbeitung russischer Kriegs- und Besatzungsverbrechen in der Ukraine ist die jüngste Aufgabe. (rn)