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Hans-Georg Maaßen im Interview„Westdeutschen kennen Mentalität im Osten zu wenig“

Lesezeit 8 Minuten
Hans-Georg Maaßen

Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Herr Maaßen, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), sagt: In den neuen Ländern ist die Neigung, eine rechtsradikale Partei zu wählen, offensichtlich ausgeprägter als in den alten Bundesländern. Sehen Sie das auch so?Hans-Georg Maaßen: Nein, das würde ich so nicht sagen. Ich kann sagen, dass die Menschen im Osten sehr, sehr stolz darauf sind, dass die friedliche Revolution 1989 von ihnen ausging, und auf das, was sie in den letzten 30 Jahren hier alles aufgebaut haben. Sie sind sehr sensibel gegenüber Bevormundung.

Sie haben es erlebt, bevormundet worden zu sein aus Ost-Berlin oder von der Bezirksleitung der SED. Sie möchten sich einfach nicht von anderen Menschen vorschreiben lassen, wie sie ihr Leben zu führen haben. Diesen Freiheitsdrang und das Selbstbewusstsein spüre ich hier überall im Wahlkreis.

Wie schlägt sich das politisch nieder?

Ich merke, dass viele Menschen hier eine stark ausgeprägte eigene politische Meinung vertreten, was sich dann eben auch in Protestwahlen niederschlägt. Dass die radikalen Parteien rechts und links im Osten so stark sind, nehme ich als Protest wahr, weil die Bedürfnisse der Menschen hier von der Politik nicht so erfüllt werden, wie sie es sich vorstellen. Es ist falsch, dass Politiker sagen: Wir müssen unsere Politik besser verkaufen. Ich sage: Wir müssen den Menschen besser zuhören und eine bessere Politik machen.

Sind die Ostdeutschen aufgrund ihrer Diktatur-Erfahrung sensibler gegenüber staatlichen Vorgaben?

Die Menschen im Osten – ich würde sagen, alle ab 50 – haben eine ausgeprägte DDR-Erfahrung und das Doppeldenken erlebt. Die haben erfahren, wie es ist, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie haben ein sehr feines Sensorium, das immer dann anschlägt, wenn sie den Eindruck haben, da möchte ihnen jemand den Mund verbieten, oder da wird nicht die Wahrheit gesprochen, oder sie werden belogen, oder man lässt etwas weg. Das kennen sie aus der DDR, da durfte man auch nicht die Wahrheit aussprechen, weil man damit dem Klassenfeind Argumente geliefert hätte. Man kann die Leute hier wirklich auf die Palme, oder ich sage jetzt mal: auf die Eiche bringen, wenn man denen sagt, sie dürfen etwas nicht sagen, oder sie würden sich hier äußern wie Rechtspopulisten.

Rainer Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, wo am Sonntag Landtagswahlen sind, spricht von einer Hybris auf der linken Seite des politischen Spektrums – weil Themen zu zentralen Problemen erklärt werden, die für viele Menschen gar nicht die Probleme sind, etwa linke Identitätspolitik oder Cancel Culture.

Als Hybris würde ich das nicht bezeichnen, es ist mehr eine Hypermoral, die von der Linken wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird. Und die nichts mehr mit Moral zu tun hat, wenn sie in das Radikale oder Extreme umschlägt. Die Menschen hier empfinde ich als ausgesprochen liberal, die sagen: „Mir ist völlig egal, wie die Leute in Berlin-Friedrichshain leben, ob die vegan essen und Gender-Deutsch sprechen.“ Aber deren Toleranz endet da, wo man verlangt, dass die Leute hier in Südthüringen genauso zu leben haben.

Bei welchen Themen haben Ostdeutsche dieses Gefühl der übertriebenen Moral?

Etwa bei den Vorschriften für erneuerbare Energien. Wenn man auf dem Land lebt, kann man nicht auf den öffentlichen Nahverkehr zählen, man braucht ein Auto. Die Familien haben hier zwei Autos, manchmal drei, weil die Frau und der Mann zur Arbeit fahren. Die wollen sich nicht vorschreiben lassen, dass der Benzinpreis demnächst vielleicht bei zwei Euro liegt. In Berlin, wo vor jeder Haustür eine U-Bahn-Station ist oder ein Carsharing-Auto oder E-Bike steht, ist die Situation anders.

Ein anderes Beispiel: Hier auf dem Land gibt es sehr viele Jäger und Waldbesitzer, und die haben Angst davor, dass die Grünen jetzt alle Jagdwaffen verbieten wollen. Das steht im Grünen-Wahlprogramm. Gestern sagte mir ein alter Büchsenmacher aus Suhl, der Waffenstadt Deutschlands, der auch in der DDR schon gearbeitet hat: Damals durften Jäger keine Büchsen haben, sondern nur Flinten, und die auch nicht zuhause haben.

Die Leute wollen sich solche Eingriffe in ihren Alltag nicht vorschreiben lassen und haben Angst, dass politische Theoretiker in Berlin Entscheidungen treffen, die das Leben der Menschen auf dem Land unangemessen einschränken.

Ist das auch ein Stadt-Land-Konflikt?

Ja, definitiv. Wir müssen das Auseinanderdriften von Stadt und Land überwinden. Und den ländlichen Raum stärken, weil hier die Infrastruktur immer weiter zurückgebaut wird: Da schließen Lebensmittelmärkte und Arztpraxen, da fallen Krankenhausbetten weg, das ist ein großes Problem, das wir aufhalten müssen.

Sie sind gebürtiger Rheinländer, der nun in Thüringen Wahlkampf macht. Wie erklären Sie es sich, dass die Westdeutschen immer noch so wenig von den Ostdeutschen verstehen?

Ich glaube, die Westdeutschen kennen die Mentalität der Menschen im Osten zu wenig, auch wie sehr die DDR und dann der Freiheitskampf 1989 diese Menschen geprägt hat. Das wirkt bis heute fort. Gestern war ich bei einem Holz-Verarbeitungsbetrieb, der Holzgestelle für Polstermöbel herstellt. Die haben mir erzählt, welch große Schwierigkeiten sie haben, jetzt wegen der Holzknappheit an Material zu kommen.

Und sofort fiel denen die DDR wieder ein, auch wenn das keine wirkliche Parallele ist, so denken halt Menschen. Dann war ich bei einem Ford-Autohändler, der sagt, er habe alle Autos in der Ausstellung verkauft und auf Neuwagen könne man derzeit wegen der Lieferprobleme der Automobilindustrie bis zu einem Jahr warten. Da sagte ein anderer: Auf einen Trabbi haben wir damals zwölf Jahre gewartet. Im Westen fehlt dieser traumatische Vergleich – und damit das Verständnis für die ostdeutsche Mentalität.

Kann es auch sein, dass die Ostdeutschen noch mehr gesunden Menschenverstand mitbringen?

Wissen Sie, die Leute hier sind geerdet, die sind bodenständig. Viele haben vielleicht nicht den höchsten Bildungsstand, haben keinen Uni-Abschluss und keinen Doktortitel, sondern eine Lehre gemacht, sie sind Handwerker, sind selbstständig. Und weil sie so sind, wissen Sie, dass eins und eins zwei ist. Bei Akademikern wird vielleicht noch lange drüber geredet, ob es nicht vielleicht 1,98 sein könnte oder 2,01. Diese Leute sind einfach klar raus, und denen kann man nicht vormachen, dass eins und eins 2,01 ist.

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Die verstehen Diskussionen darüber gar nicht, weil sie nicht die Zeit dafür haben. Die Leute hier wissen, dass sie einen Euro nur einmal ausgeben können und dass man für sein Geld hart arbeiten muss - und dass Geld nicht durch Diskussionen oder staatliche Fördertöpfe erworben wird. Und ich schätze an diesen Leuten, dass sie so widerspenstig sind.

In Thüringen gab es in der Corona-Krise die höchsten Inzidenz-Werte. Hat das auch etwas mit der Mentalität zu tun?

Das mag sein. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen von der Notwendigkeit der Lockdown-Maßnahmen wie der Schließung von Schulen, Läden und Gastronomie sowie nächtliche Ausgangssperren nicht überzeugt waren. Sie haben an der inneren Logik der Maßnahmen gezweifelt. Aber sie stehen damit nicht alleine. Auch Statistiker der Ludwig-Maximilians-Universität München haben den konkreten Nutzen der Lockdown-Maßnahmen wie Schließen von Schulen, Läden und Gastronomie sowie nächtliche Ausgangssperren bezweifelt.

In Ihrer Partei, der CDU, ecken Sie oft an – aber Sie nutzen der CDU auch, weil Sie Wähler auf der rechten Seite binden. Zielen Sie da auf die Widerspenstigen ab?

Mein Ziel ist es, die klassischen CDU-Wähler hier im Wahlkreis an die CDU zu binden. Außerdem bin ich angetreten, um potenzielle AfD-Wähler zu erreichen, denen ich klar mache: Ihr braucht nicht AfD zu wählen, wenn ihr eine andere Politik, eine vernünftige Realo-Politik haben wollt. Sondern ihr könnt die klassische CDU wählen, die eure Interessen auch in Berlin vertreten wird. Und dann will ich auch die Nichtwähler mobilisieren, die oft Wahlen entscheiden. Meine Programmatik, die ich hier vertrete, ist die klassische CDU-Programmatik, nämlich soziale Marktwirtschaft, Sicherheit und Ordnung, geordnete Migration aber auch Toleranz und Liberalität. Das sind die Themen, die die Menschen beschäftigen. Und natürlich auch die Probleme mit der Corona-Politik.

Wie halten es die Christdemokraten mit der AfD?

Die CDU hat einen klaren Abgrenzungsbeschluss gegenüber der Linken und der AfD, mit denen wir nicht koalieren werden. Das gilt auch für Südthüringen.

Ist die AfD der Hauptgegner der CDU im Wahlkampf – oder sind es die Grünen, wie Friedrich Merz sagt?

Ich glaube, dass uns hier in Südthüringen die Grünen weniger Probleme bereiten, weil die Menschen einfach kein Verständnis für die Positionen der Grünen haben. Die Grünen sind hier politische Romantiker, die von Sachen reden, von denen sie keine Ahnung haben – etwa wenn es hier um Wiederaufforstung geht. Ich glaube, der Hauptgegner sind die Radikalen rechts und links.

Hat die Union unter Angela Merkel ihre konservativen Wähler vernachlässigt?

Man kann sagen, die konservativen Köpfe, die für eine andere Politik stehen, fehlen, und deshalb können bestimmte Wählergruppen nicht mehr erreicht werden. Wenn man Volkspartei sein will, muss man natürlich auch diesen Teil der Bevölkerung, der so denkt, ernst nehmen und repräsentieren. Das möchte ich machen.

Nach der Wahl des rechten Ökonomen Max Otte zum Bundesvorsitzenden der konservativen Werteunion distanzieren sich die CDU und Parteichef Armin Laschet von der Gruppierung. Sie selbst lassen Ihre Mitgliedschaft ruhen. Warum?

Dazu möchte ich nichts weiter sagen.