Frage des TagesIst unsere Gesellschaft wirklich verroht?
- Laut einer Umfrage empfinden vier von fünf Deutschen eine zunehmende Verrohung in Deutschland.
- Opfer sind demnach auch die früheren Respektspersonen, vor allem Polizisten, Rettungskräfte, Busfahrer und Lehrer.
- Aber ist dem wirklich so? Unsere Frage des Tages.
Berlin – Umfrageergebnisse können in ihrer Eindeutigkeit mitunter auch die Befragten selbst entlarven. Wenn 83 Prozent der Bundesbürger in einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa der Aussage zustimmen, dass die Gesellschaft zunehmend verrohe, also der Umgang der Menschen untereinander rücksichtsloser und brutaler werde, dann können sie nicht nur die restlichen 17 Prozent als Übeltäter empfinden, dann müssen sie einfach selbst auch ein Stück dazu beitragen.
Zwischen Ost- (84 Prozent) und Westdeutschen (83), zwischen Männern (83 Prozent) und Frauen (82) gibt es kaum Unterschiede bei dieser verheerenden Verrohungswahrnehmung. Lediglich zwischen den Altersgruppen geht die Einschätzung deutlicher auseinander. 67 Prozent der 18- bis 29-Jährigen erkennt wachsende Rücksichtslosigkeit, bei den Älteren ab 60 Jahren sind es 86 Prozent. Bei den Jüngeren gibt es auch mit 26 Prozent den größten Anteil derjenigen, die der These eindeutig widersprechen.
Polizisten sind den meisten Angriffen ausgesetzt
Verblüffenderweise kehrt sich das Verhältnis um, wenn nachgefragt wird, ob die Bürger auch schon einmal beobachtet haben, dass Beschäftigte des öffentlichen Dienstes behindert, belästigt, beschimpft oder angegriffen wurden. Dann wurden 18 Prozent der Älteren Zeugen solcher Aggressionen, aber sogar 38 Prozent der Jüngeren. Unter den öffentlich Bediensteten selbst sind es sogar 41 Prozent.
Wie Forsa-Chef Manfred Güllner im Detail erläuterte, sind Polizisten den meisten Angriffen ausgesetzt. „Fast drei Viertel (73 Prozent) derjenigen, die bereits einen Angriff auf öffentlich Bedien stete wahrgenommen haben, beobachteten dies bei Einsätzen der Polizei“, sagte Güllner. 58 Prozent hatten Übergriffe auf Rettungskräfte und Notärzte gesehen, 42 Prozent auf Busfahrer, 40 Prozent auf Feuerwehrleute. Lehrer und Lehrerinnen wurden von 36 Prozent als Opfer wahrgenommen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Ordnungsamtes von 34 Prozent.
Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Stellen
Wie erfolgen die Angriffe auf Beschäftigte des öffentlichen Dienstes? Auch hier hat Forsa weitere Details. Danach wurden 89 Prozent der Betroffenen beleidigt, 68 Prozent angeschrien, 31 Prozent körperlich bedrängt, 17 Prozent geschlagen, zwölf Prozent bespuckt und sechs Prozent beim Einsatz bedroht.
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Die prekäre Stimmung ausufernder Verrohung geht einher mit einem zunehmenden Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Stellen. Nur noch 34 Prozent der Bundesbürger ist der Ansicht, dass der Staat seine vielfältigen Aufgaben erfüllt. Fast zwei von drei Befragten (61) halten den Staat inzwischen für überfordert. Je älter sie sind, desto skeptischer sehen sie das Agieren der öffentlichen Institutionen. 54 Prozent der 18-bis 29-Jährigen sehen eine Überforderung des Staates, 61 Prozent der 30- bis 44-Jährigen, 63 Prozent der Älteren ab 60 Jahren. Signifikante Unterschiede zeigt auch die parteipolitische Verortung. 52 Prozent der Unionsanhänger halten den Staat für überfordert, 87 Prozent der AfD-Anhänger. Aber auch hier sind sich Ostdeutsche (62 Prozent) und Westdeutsche (61) in ihrer Einschätzung der staatlichen Aufgabenerfüllung weitgehend einig.
Studie: Der Staat ist beim Thema Bildung überfordert
Ohne Antwortmöglichkeiten vorzugeben, ermittelte Forsa auch, auf welchen Feldern die Menschen den Staat am meisten überfordert sehen. Die Schul- und Bildungspolitik steht mit 24 Prozent auf dem ersten Platz, die Asyl- und Flüchtlingspolitik mit 19 Prozent auf dem zweiten, die Innere Sicherheit folgt mit 17 Prozent auf Platz drei. Für Beamtenbund-Chef Ulrich Silberbach lässt sich aus dem Befund, dass hier die Hoheitsaufgaben der Bundesländer betroffen sind, die Frage ableiten, ob der deutsche Föderalismus optimal aufgestellt ist. Es müsse neu gedacht und manches in Teilen auch zentralisiert werden, erklärte Silberbach.
Für ihn folgt als Konsequenz die Forderung nach einer besseren Transparenz. In den Ländern und besser noch bundesweit müssten Register angelegt werden, in denen alle Fälle von Gewalt gegen Bedienstete aufgenommen werden, damit aus der Auswertung auch gezielte Gegenstrategien entwickelt werden könnten.
Der Mantel des Schweigens
Hinzu kommen müsse die Möglichkeit, Forderungen abzutreten, dass also nicht mehr der Geschädigte selbst tätig werden müsse sondern der Staat für ihn gegen den Schädiger vorgehen könne. „Zu viele Dienststellen breiten den Mantel des Schweigens über Angriffe“, berichtete Silberbach.
Deshalb hält er es für dringend nötig, flächendeckend Ombudsleute zu installieren, an die sich Betroffene richten könnten. Der Beamtenbund-Chef forderte angesichts der jüngsten Zahlen ein „klares Signal der Politik und der Zivilgesellschaft, sich hinter den öffentlichen Dienst zu stellen“.
Der Innenexperte der Unionsfraktion, Mathias Middelberg, ist nicht abgeneigt, dem Vorschlag zu Registern nachzugehen. „Eine entsprechende Erfassung von weiteren Angriffen kann dazu beitragen, einen genaueren Überblick zu gewinnen“, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion.
„Stark für Dich. Stark für Deutschland“
Er verwies zudem auf die bundesweite Präventiv-Kampagne „Stark für Dich. Stark für Deutschland“, mit der sich das Innenministerium für ein besseres gesellschaftliches Klima gegenüber Polizeibediensteten und Rettungskräften einsetze. Daneben habe die Politik durch Strafverschärfungen ein deutliches Zeichen gesetzt, indem auch Angriffe auf weitere Einsatzkräfte wie auch die Behinderung hilfeleistender Dritter unter Strafe gestellt worden sei.