Hamburg/Köln – Sturmflut, Wirtschaftskrisen, Terrorismus, Europas Stellung in der Welt: Helmut Schmidt (1918-2015) hat sich als Politiker und später als Autor und Publizist zeit seines langen Lebens vielen großen politischen und ökonomischen Herausforderungen und Fragen gestellt.
Helmut Schmidt machte sich nicht immer Freunde
Nicht immer machte er sich damit Freunde: So kämpfte der SPD-Politiker für ein strategisches Gleichgewicht atomarer Mittelstreckenwaffen in Zentraleuropa, was in der Bevölkerung und innerhalb seiner Partei höchst umstritten war. Doch stets war man bei ihm sicher, dass er mit großem Ernst, profundem Wissen und höchster Konsequenz bei der Sache war.
In einem fiktiven Interview gehen wir mit Blick auf die Bundestagswahl der Frage nach, welche Antworten Schmidt heute geben würde. Meik Woyke, Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Hamburg, hat dazu Zitate aus Schriften des Ex-Kanzlers zusammengestellt.
Herr Schmidt, der Klimaschutz beherrscht die politischen Debatten. Kann und muss sich dem jetzt alles unterordnen? Welchen Rang sollte das Thema haben?
„Deutschland kann hier einen Beitrag leisten, aber dieser wird ziemlich unbedeutend bleiben, solange Deutschland als einzelner Staat auftritt und nur für sich spricht. […] Beim Boden und beim Wasser haben wir in Deutschland große Fortschritte erzielt, aber die entscheidend wichtigen Gebiete bleiben die Zerstörung der Erdatmosphäre und die globale Erwärmung. Hier hat nur die Europäische Union als Ganzes ein ausreichendes Gewicht im umweltpolitischen Schacher der Weltmächte. Zugleich ist allerdings eine Warnung vor Klima-Psychosen angebracht. Es steht fest, daß das Klima auf der Oberfläche unserer Erde seit Jahrmillionen immer wieder großen Schwankungen unterworfen war. […]
Wir können weder Erdbeben noch Vulkanausbrüche kontrollieren, weder die Jahreszeiten noch die natürliche Folge von Eiszeiten und Warmzeiten. Was wir allerdings tun können: uns auf Naturereignisse vorbereiten und den Veränderungen Rechnung tragen.
Vor allem aber muss die Menschheit die von ihr selbst erzeugten Faktoren der globalen Erwärmung in den Griff bekommen und sie dämpfen und begrenzen, das heißt konkret, die Menge der in die Atmosphäre ausgestoßenen Gase, vor allem Kohlendioxyd und Methan, verringern. Dazu sind vielerlei neue Techniken nötig – von Windkraftanlagen bis zu sparsameren Motoren in Autos, Flugzeugen und Schiffen.“
Klimaschutz wirft zahlreiche technologische, aber auch soziale Fragen auf. Ist die soziale Marktwirtschaft solch großen Transformationen und Herausforderungen gewachsen?
„Keine Marktwirtschaft und kein Markt schafft automatisch Marktordnung, Wettbewerbsordnung und soziale Gerechtigkeit für die ökonomisch Schwächeren und Abhängigen. Das war im alten China, im antiken Rom oder im europäischen Mittelalter nicht anders. Überall muss die Regierung für Ordnung sorgen, nirgendwo kommt Ordnung von selbst.“
„Zahlreiche Manager in großen deutschen Unternehmen klagten zu Beginn des 21. Jahrhunderts laut über den ,Standort Deutschland‘, der sie im internationalen Wettbewerb angeblich unnötig benachteilige. Sie sprachen abwertend vom Sozialstaat als ,Sozialklimbim‘ und zeigten wenig Verständnis für ihre Belegschaften. Die Soziale Marktwirtschaft war in ihren Augen ein Widerspruch in sich. Heute sind diese Kritiker sehr viel leiser geworden.
Tatsächlich ist der westeuropäische Sozialstaat von Italien bis Skandinavien die große Errungenschaft des europäischen Kulturkreises im 20. Jahrhundert. Nur eine sozial gebändigte kapitalistische Marktwirtschaft – Privateigentum und Markt auf der einen Seite und auf der anderen Seite soziale Sicherheit für die kleinen Leute plus deren angemessene Beteiligung am Wachstum plus Betriebsrat und Mitbestimmung – sichert auf Dauer den inneren Frieden.“
In der Corona-Krise hat der Staat massiv mit Hilfen und Beteiligungen geholfen, um Unternehmen und Jobs zu sichern und zu retten. War das in diesem Ausmaß richtig? Oder hätte man die Wirtschaft stärker der Wirtschaft überlassen sollen?
„Von dem Ökonomen John Maynard Keynes habe ich in den ersten Nachkriegsjahren Entscheidendes gelernt. Keynes war schon tot, seine ,General Theory of Employment, Interest and Money‘ (1936) war schwer verständlich; doch zwei seiner deutschen Adepten, die Professoren Erich Schneider und Karl Schiller, haben mich seinen makroökonomischen Ansatz der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung begreifen lassen. Ich bin deswegen allerdings – anders als manche englische, französische und deutsche Linke – kein naiver ,Keynesianer‘ in dem Sinne geworden, dass ich in einer staatlichen Defizitwirtschaft ein Allheilmittel sehe.
Im Gegenteil, in den frühen siebziger Jahren habe ich durch den unter meinem Vorsitz erarbeiteten ,Orientierungsrahmen 85“ versucht, der unter Kanzler Brandt schnell wachsenden Neigung zum deficit spending entgegenzuwirken.“
In Berlin wird heftig gestritten, ob und wann der Bund wieder zur „schwarzen Null“, also einem ausgeglichenen Haushalt, zurückkehren sollte. Braucht es wieder mehr Ausgabendisziplin? Oder eher Investitionsprogramme, um Deutschland zukunftsfest zu machen?
„Staatlicher Verkehrswegebau, Brückenbau, Tunnelbau, Straßenbau, Eisenbahnbau, Hafenbau, staatliche Infrastrukturinvestitionen insgesamt sind eine unumgängliche Voraussetzung, eine Notwendigkeit, damit privatwirtschaftliche Investitionen durch die Firmen folgen können und damit sichere Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft geschaffen werden können.
Wir müssen deshalb insgesamt aufpassen, im Bund genauso wie in den Ländern und genauso auch hier in Hamburg, dass der Staat genug Geld aus seinem Haushalt für öffentliche Investitionen abzweigt; denn die Investitionen von heute ziehen die Arbeitsplätze und die Masseneinkommen von morgen nach sich.“
Wie sollte man mit Autokraten wie Wladimir Putin umgehen?
„Die Tatsache, dass Berlin die bei weitem stärkste Wirtschaftsmacht Europas repräsentiert, führt zu Selbstüberschätzungen. Das kann schiefgehen. Frau Merkel muss verstehen, dass Putin sich die schwierige Aufgabe gestellt hat, das russische Kolonialreich, das von der Ostsee bis an den Stillen Ozean reicht, zusammenzuhalten.
In diesem riesenhaften Staat gibt es gewaltige Probleme, zum Beispiel einen sehr hohen Anteil dort geborener Muslime, die eine muslimische Gesellschaftsordnung haben. […] Ich glaube nicht, dass am Ende des 21. Jahrhunderts Russland noch bis zum Stillen Ozean reichen wird. Das Bevölkerungswachstum in Asien wird große Wanderungsbewegungen auslösen, die Chinesen werden nach Sibirien reindrücken, die Muslime werden auch reindrücken.“
„Unsere Medien berichten täglich über diese Probleme, wir lassen uns auch täglich aufregen von den Nachrichten über die Ukraine, über Putin, über Beschlüsse der Nato oder über gegenseitige ,Sanktionen‘. Und diese Aufregung ist gerechtfertigt. […] Für uns Deutsche aber wird weiterhin gelten: Sowohl Russland als auch Polen werden über das Ende dieses Jahrhunderts hinaus unsere Nachbarn bleiben, egal, wie die heutige Ukraine-Krise gelöst wird. Wir haben Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte hinter uns, relativ selten im Guten, meist im Schlechten.“
China ist zur Weltmacht aufgestiegen und baut global seinen Einfluss aus. Zugleich gibt es dort massive Menschenrechtsverletzungen. Wie sollten deutsche Politiker und Unternehmen damit umgehen? Wo verläuft der Grat zwischen Ethik und Realpolitik?
„Wir Europäer haben noch immer keine hinreichende Vorstellung von der viertausendjährigen Zivilisation und von der Geschichte des chinesischen Volkes. Auch von anderen Ländern in Südostasien wie Indonesien, Malaysia oder Burma haben wir wenig Ahnung – wir reden wie der Blinde von der Farbe.“
„Persönliche Freiheitsrechte hat es weder während der tausendjährigen Herrschaft der chinesischen Kaiser noch unter Tschiang Kai-shek noch unter Mao Zedong gegeben; sie wurden deshalb auch nicht ,geopfert‘. Sie dürfen die politischen Vorgänge in Asien, im islamischen Raum, in Afrika oder in Lateinamerika nicht nach neuzeitlichen europäischen Maßstäben beurteilen. Aber sogar in Europa und Nordamerika haben fast ausnahmslos alle Revolutionen und Bürgerkriege schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte in Kauf genommen.“
„Ich bin ein Gegner von allen Menschenrechtsverletzungen; aber ich bleibe ein Anhänger der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates.“„Der Westen kann den weiteren ökonomischen und technologischen Aufstieg Chinas nicht verhindern, schon gar nicht, indem er sich der politischen Zusammenarbeit verweigert oder politischen Druck auszuüben versucht.“
Die AfD ist aktuell stärkste Oppositionsfraktion. Was hilft gegen Populisten?
„Die Chancen von Populisten hängen zurzeit weniger damit zusammen, dass nicht alle Leute zur Wahl gehen, sie hängen zusammen mit der Angst vieler Leute vor der Überfremdung durch Zuwanderer aus sehr fremden Zivilisationen. Das haben Sie gesehen in Frankreich bei Le Pen, in Belgien, in Holland, in Österreich, auch in Dänemark. Dieser antiislamische Populismus hat große Chancen, völlig unabhängig von der Wahlbeteiligung.“
„Weil wir Deutschen in der Demokratie nicht sonderlich erfahren sind, neigen einige unter uns dazu, ihre Schwächen als Kennzeichen prinzipieller Unzulänglichkeit anzusehen. Viele Deutsche müssen erst noch lernen, daß die Demokratie überall auf der Welt mit Versuchungen, Defiziten und Irrtümern behaftet ist, daß sie aber tatsächlich die bei weitem beste Regierungsform darstellt, die wir kennen.“
Neben Linksextremisten hat sich in Deutschland eine große zunehmend gewaltbereite rechtsextreme Szene etabliert. Wie ist der Zulauf zu den Extremisten zu erklären? Und wie muss der Staat reagieren?
„Wo es Verhältniswahlrecht gibt, dort entstehen zwangsläufig linksextreme und rechtsextreme Parteien. Das sehen Sie in Italien, in Frankreich, in Holland und jetzt auch in Deutschland. Die Parteien in der Mitte zwingt es dazu, sich zusammenzuraufen, ob das große Koalitionen sind oder halb große oder halb starke.“
„Wenn sich ein Rechtsradikaler im Bundestag danebenbenimmt, würde ich ihm Kontra geben; und ich gehe davon aus, dass der Präsident ihn entsprechend anfasst. Man kann ihn öffentlich sichtbar und hörbar zur Schnecke machen. Das würde ich dann tun. Ob auch als Bundesminister – weiß ich nicht. Und als Kanzler: höchstens einen Satz.“
Politik und politische Meinungsbildung findet immer stärker im Internet und in sogenannten Filterblasen statt. Eine Gefahr für die Demokratie?
„In früheren Zeiten hat es in einer Reihe deutscher Städte Lesegesellschaften gegeben, in denen aus der Literatur vorgelesen und sodann darüber diskutiert wurde. Im Zeitalter der elektronischen Medien droht das Gespräch einzutrocknen, weil viele allzu einseitig auf Fernsehen und Internet eingestellt sind und zugleich ihr Freundes- und Bekanntenkreis auf ihr berufliches Umfeld beschränkt bleibt. Manager unter sich, Arbeitgeber unter sich, Gewerkschafter unter sich, Wissenschaftler, Ärzte, Juristen und Ingenieure jeweils unter sich, Politiker derselben Partei unter sich – allzu viele Menschen neigen zu geistiger Inzucht. Damit laufen wir die doppelte Gefahr einer Verflachung unserer gesellschaftlichen Kultur und einer Aufspaltung unserer Gesellschaft in Interessengruppen.“ (…)
„Jedenfalls neigen die Medien dazu, manches wegzulassen, was eigentlich wichtig ist, und manches zu übertreiben, was nicht so wichtig ist. Sie verführen die Politiker in anderer Weise als früher. Heute setzt sich zum Beispiel kaum ein Politiker mehr wochenlang an den Schreibtisch, um eine große Rede zu der Grundsatzfrage auszuarbeiten, ob man bei Bürgerkriegen in fremden Ländern von außen eingreifen soll und darf. Manch einem Politiker genügt es, an einer Talkshow zu diesem Thema teilzunehmen. Er sagt dort seine Meinung. Das reicht ihm.“
„Drei Dinge fallen mir dazu ein. Erstens: Das Internet gehört kaum zu meiner Welt. Zweitens: Ich empfinde es als bedrohlich. Und drittens: Es hat Zukunft.“„Unbestreitbar führt das Internet auch zu positiven Veränderungen. Das Negative besteht meiner Meinung nach darin, dass das Internet zu Oberflächlichkeit verleitet, zu spontanen Reaktionen, hinter denen kein langes Nachdenken steckt: Ich habe etwas gelesen, und sofort twittere ich dagegen oder darüber – womöglich auch noch in falscher Grammatik. Die elektronischen Medien führen unter anderem dazu, dass die Qualität der Mitteilung abnimmt.“
Hand aufs Herz: Sind Sie in Ihren mehr als 30 Jahren als „Zeit“-Herausgeber wenigstens ein bisschen zum Journalisten geworden?
„Ich fürchte nicht, und wissen Sie, warum? […] weil ich es mir einfach nicht abgewöhnen kann, gründlich zu arbeiten!“