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Experte für Krisenmanagement„Manche Kinder werden spielen, wie Panzer einrollt“

Lesezeit 5 Minuten
7-Jähriger im Ukraine-Krieg (1)

Der 7-jährige Yehor hält ein Spielzeuggewehr aus Holz neben zerstörten russischen Militärfahrzeugen in der Nähe von Tschernihiw.

  1. Die Hälfte der ukrainischen Kriegsflüchtlinge sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk Kinder- und Jugendliche.
  2. Darüber, was ihnen in dieser extremen Belastungssituation helfen kann, sprach Gabi Bossler mit dem Professor für Psychosoziales Krisenmanagement, Harald Karutz.

Viele Kinder, die ankommen, sind sehr still, haben fast maskenhafte Gesichter. Wie erleben Kinder Krieg und Flucht?

Karutz: Man muss immer auf das einzelne Kind schauen. Manche sind schon vor Beginn des Krieges aus dem Land herausgekommen. Andere haben grauenhafte traumatische Erfahrungen gemacht, gesehen, wie Panzer aufgefahren sind und Menschen getötet wurden. Manche Kinder können über all das nicht sprechen. Das ist ein Schutzmechanismus, der im Extremfall sogar verhindert, dass man sich an Dinge erinnert, die unerträglich waren.

Sprechen können die Kinder oft nur mit ihren Müttern, und auch die sind sehr belastet....

Manche Kinder trauen sich überhaupt nicht, über das Erlebte zu sprechen. Sie sehen, dass ihre Mama schon so traurig, voller Sorge ist und reißen sich zusammen, um ganz stark zu sein. Auch aus Angst davor, dass der Mama etwas passieren könnte. Dann wäre ja gar keiner mehr für sie da. Diese Kinder werden oft als tapfer wahrgenommen, haben aber doppelte Angst. Bis vor wenigen Tagen waren sie noch in ein Familiensystem eingebunden, mit Eltern, Verwandten, Freunden. Sie wurden ganz vieler Dinge beraubt, die ihnen Halt und Sicherheit geben. Ein starker Belastungsfaktor ist allein schon, dass die Väter zurückbleiben mussten.

Zur Person

Prof. Dr. Harald Karutz ist Diplom-Pädagoge und Professor für Psychosoziales Krisenmanagement an der Medical School Hamburg. Er forscht seit Jahren zur Psychosozialen Notfallversorgung von Kindern und Jugendlichen, hat im Auftrag des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe das Forschungsprojekt „Kind und Katastrophe“ geleitet. Ehrenamtlich engagiert er sich als Notfallseelsorger.

Manche Kinder malen Panzer oder Bomben und Flugzeuge ...

Das ist gut so und teilweise die einzige Möglichkeit für sie, auszudrücken, was sie erlebt haben. Etwa, wenn sie noch nicht sprechen gelernt haben. Oder das gerade nicht können.

Was hilft Kindern und Jugendlichen, die gerade hier angekommen sind?

Zuallererst Schutz, Sicherheit und Geborgenheit. Zur Ruhe kommen. Flucht kostet unvorstellbar viel Kraft. Zu merken, dass sie willkommen sind. Später dann sollte man ihnen die Möglichkeit geben, auszudrücken, was sie erlebt haben. Auch über altersangemessene Gesprächsangebote in der Muttersprache. Manche Kinder werden „posttraumatisch“ spielen, etwa wie ein Panzer eingerollt ist oder Raketen eingeschlagen sind.

Und da sollte man nicht sagen „Spiel doch was Schöneres“....

Auf keinen Fall. Das spielen die Kinder, weil sie es brauchen, um das was ihnen widerfahren ist, zum Ausdruck zu bringen. Manche Eltern können das nicht mitansehen und verbieten diese Spiele, auch aus der eigenen Hilflosigkeit heraus.

Dann sind pädagogisch geschulte Betreuungskräfte in den ersten Wochen wichtig?

Für die Kinder ist wichtig, dass es dann Menschen gibt, die sie empathisch und kompetent begleiten. Ein UN-Konzept sieht dafür „Schutz- und Spielräume“ vor, das weltweit, etwa auch nach Erdbebenkatastrophen, umgesetzt wird. Es müsste sie in jeder Geflüchtetenunterkunft geben.

Gibt es spezielle Angebote für Kinder aus Kriegsregionen?

Viele. Ein Beispiel ist ein in den USA entwickeltes Ausmalbuch mit Katastrophenmotiven. Auf den ersten Blick skurril, aber das ist das, was die Kinder erlebt haben. Malen und auch Ausmalen ist ein kreativer Bewältigungsprozess. Auch körperliche, Aktivität ist jetzt wichtig, um angestaute Erregung abzubauen.

Ist die Begleitung durch ukrainischsprachige Betreuende sinnvoll?

Bei Kindern geht nicht alles über das gesprochenen Wort, viel über Gestik, Mimik, Nähe. Wichtig ist, dass die Betreuenden Wärme und Geborgenheit vermitteln, dass sie verlässlich zu bestimmten Zeiten da sind. Und sie müssen es aushalten können, wenn Kinder ihre Erlebnisse ausagieren. Unbedingte Voraussetzung ist ein erweitertes Führungszeugnis. Denn große Katastrophen rufen nicht nur große Hilfsbereitschaft hervor, sondern ziehen leider auch einige Menschen an, die die Verletzlichkeit anderer ausnutzen.

Was ist für geflüchtete Jugendliche wichtig?

Auch für sie sollte es einen Raum geben, wo sich mit ihrer Peergroup treffen können. Für die Älteren wäre es gut, wenn es auch andere ukrainischsprachige Bezugspersonen als die Mutter gäbe, mit denen sie Dinge besprechen könnten.

Wie wichtig ist eine schnelle Integration?

Integration kostet Kraft. Wenn Kinder durch ihre belastenden Erlebnisse erschöpft sind, brauchen sie jetzt erst einmal Zeit. Hier sollte man den Druck rausnehmen und die einzige wichtige Frage stellen: Was braucht dieses Kind? Für manche Kinder ist das der rasche Schulbesuch, andere brauchen eine Stabilisierung durch Fachkräfte, bevor sie die Kraft für Kita oder Schule haben. Und nicht wenige werden auch therapeutische Hilfe brauchen, um die Kriegserlebnisse zu verarbeiten.

Schnelle Hilfe zu organisieren scheint vielen Verwaltungen gerade schwer zu fallen....

Verwaltungsstrukturen sind seit Jahrzehnten nicht mehr auf Krieg und Krise ausgerichtet. Verwaltungshandeln müsste jetzt dringend in einen Krisenmodus überführt werden, um vor allem schnell zu handeln Prioritäten anders zu setzen, mal Fünfe gerade sein zu lassen.

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Welche Folgen hat die Verdrängung von Kriegserlebnissen?

Wenn kindliche Traumaerfahrungen nicht gut aufgefangen werden, wirken sie sich auf den gesamten Lebensweg aus. Das haben zahlreiche Studien ganz klar gezeigt. Häufig haben die Betroffenen später chronische Erkrankungen oder Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Wenn an der Begleitung dieser Kinder heute gespart wird, fällt uns das später auch volkswirtschaftlich auf die Füße. Unser großes Problem ist, dass wir nicht genug Plätze für Traumatherapien haben. Schon vor der Pandemie gab es in Großstädten Wartezeiten von über vier Monaten. Der Bedarf ist durch die Pandemie gestiegen, und jetzt haben wir dazu noch Menschen aus einem Kriegsgebiet hier.

Haben Sie einen Rat für die ehrenamtlich Helfenden?

Bescheiden auftreten, respektvoll hinschauen, was gewünscht wird. Nichts überstülpen, denn die Psyche der geflüchteten Menschen weiß ganz gut selber, was sie braucht. Helfen heißt Angebote zu machen, die genutzt werden können, aber nicht genutzt werden müssen.