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Ex-Außenminister im InterviewWas bedeutet die US-Wahl für uns, Herr Gabriel?

Lesezeit 6 Minuten
ARCHIV - 27.10.2020, Berlin: Sigmar Gabriel (SPD), Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V., spricht. (zu dpa: «Gabriel kritisiert fehlende Debatte über Stationierung von US-Raketen») Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

„Die Ukraine ist erst der Anfang“: Laut Sigmar Gabriel führt Russland Krieg gegen den Westen.

Wenige Tage vor der US-Wahl ist Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) in den USA. Der 65-jährige Vorsitzende der Atlantik-Brücke, einem Verein, der sich für enge Beziehungen mit den USA einsetzt, sieht die Bundesrepublik vor schweren Entscheidungen – egal, ob Kamala Harris oder Donald Trump ins Weiße Haus einzieht.

Herr Gabriel, Sie sind gerade in den USA. Wie ist die Stimmung kurz vor der Wahl?

Angespannt ist vielleicht das treffendste Wort. Demokraten und Republikaner erwarten ein knappes Rennen und fragen sich, ob es danach wohl Auseinandersetzungen um den Wahlausgang geben wird. Dementsprechend mehren sich die Stimmen, die vor allem auf eines hoffen: auf einen eindeutigen Ausgang, egal für wen.

Ich halte die Fixiertheit darauf, wer im Weißen Haus sitzt, für falsch.
Sigmar Gabriel

Was käme im Fall eines Wahlsiegs von Donald Trump auf Deutschland zu?

Ich halte die Fixiertheit darauf, wer im Weißen Haus sitzt, für falsch. Es gibt ein paar grundsätzliche Themen, bei denen die USA ihre Haltung geändert haben – ganz egal, wer der nächste Präsident wird. Die USA werden protektionistischer bleiben, sich stärker auf den Indo-Pazifik konzentrieren und sie wollen ihre Rolle als globale Ordnungsmacht nicht mehr so wahrnehmen wie früher. Das alles führt zu großen Herausforderungen für Europa. Wir sollten uns vor allen Dingen mal um unsere eigenen Hausaufgaben kümmern, statt immer wie ein Kaninchen auf die Schlange aufs Weiße Haus zu starren. Je stärker Europa ist, desto wichtiger werden wir auch für die USA, ganz egal, wer dort Präsident wird.

Hat Deutschland die Atempause unter Joe Biden genutzt, um sich darauf vorzubereiten?

Es ist doch völlig klar, dass wir nicht vorbereitet sind. Die Entscheidung, die Bundeswehr nicht mehr als Armee zur Territorialverteidigung Deutschlands und seiner Verbündeten auszurüsten, sondern als Armee für „Out of Area“-Einsätze in Afghanistan, in Mali oder am Horn von Afrika umzubauen, ist jetzt gut 15 Jahre her. Die Wehrpflicht ist abgeschafft und statt 500.000 Soldaten haben wir nur noch 180.000. Wir werden mindestens zehn Jahre brauchen, um das wieder zu ändern. Und wenn die Politik sich noch eine Weile selbst beschwindelt und nicht ehrlich erklärt, dass man die dafür notwendigen Investitionen auch durch neue Schulden wird bezahlen müssen, dann dauert es 20 Jahre. Es ist doch blanker Unsinn zu glauben, diese gewaltigen Summen, die für die Verteidigungspolitik nötig sind, könne man im Bundeshaushalt einsparen. Wir reden hier über Hunderte von Milliarden Euro.

Ist die deutsche Gesellschaft bereit für diesen Kurswechsel?

Unsere gesamte Gesellschaft ist nicht darauf eingestellt, dass wir in Zukunft weit mehr als in der Vergangenheit unsere eigene Sicherheit garantieren müssen. Verteidigungsfähigkeit lebt doch nicht allein von der Anzahl von Panzern und Flugzeugen, sondern von der Bereitschaft einer Gesellschaft, ihr Leben, ihre freiheitliche Verfassung und das Leben ihrer Kinder und Enkel selbst bestimmen zu wollen und sich nicht durch militärischen Druck von außen in der Welt herumschubsen zu lassen. Diese innere Resilienz werden wir erst noch lernen müssen. Zurzeit glaubt doch die Mehrheit unseres Landes, das Elend in der Ukraine sei vorbei, wenn die Russen einen Teil der Ukraine dauerhaft besetzen können und dann ein Waffenstillstandsvertrag folgt.

Gewinnt Putin in der Ukraine, egal ob auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch, wird er Unruhe und Krieg an anderer Stelle stiften.
Sigmar Gabriel

Ist da nicht etwas dran?

Das ist eine große Illusion: Die Ukraine ist erst der Anfang. Russland führt einen Krieg den aus seiner Sicht dekadenten Westen. Gewinnt Putin in der Ukraine, egal ob auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch, wird er Unruhe und Krieg an anderer Stelle stiften: in Moldawien, in Georgien und vermutlich auch irgendwann bei einem Nato-Staat wie Estland. Nur Einigkeit und Stärke bringt ihn zu wirklichen Verhandlungen. Nicht Schwäche und Ängstlichkeit. Russland und speziell Wladimir Putin kennt uns Europäer und vor allem uns Deutsche sehr genau. Und letztlich setzt er auf unsere Bequemlichkeit und Feigheit.

Wird die US-Wahl also schon über das Schicksal der Ukraine entscheiden?

Ich erinnere mich, dass Trump sich bei G7-Treffen wunderte, warum dort die Ukraine auf der Tagesordnung steht. Schon in seiner ersten Amtszeit fand er, dass die Ukraine weder ein amerikanisches noch ein japanisches Problem ist. Wäre er beim Einmarsch Russlands in die Ukraine Präsident gewesen, stünden die Russen jetzt vermutlich an der polnischen Grenze. So eine umfassende Unterstützung der USA wie bislang wird es mit Donald Trump ganz sicher nicht mehr geben. Ich halte allerdings genauso für möglich, dass er die Unterstützung verdoppelt, wenn Putin nicht auf seine Vorschläge eingeht. Bei Trump ist immer alles möglich.

Wo hätte Olaf Scholz seit Kriegsbeginn anders handeln müssen?

Ich hätte es sogar richtig gefunden, angesichts des monatelangen parteipolitischen Streits in den USA, ihre finanzielle Hilfe für die Ukraine freizugeben, wenn der deutsche Bundeskanzler in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz erklärt hätte, dass Deutschland allein für diese Zahlung von 60 Milliarden US-Dollar einspringt. Gemessen an dem, um was es hier geht, und gemessen an unserem niedrigen Schuldenstand, wäre das allemal zu schaffen gewesen. Und da hätte ich die Herren Lindner oder auch Merz mal sehen wollen, die sich gegen diesen Vorschlag gestellt hätten. Niemand wäre dem Kanzler in den Arm gefallen.

Warum denken Sie, hat er es nicht getan?

Ein rationales Argument ist, dass sich Deutschland im Konflikt mit Russland nicht noch mehr exponieren wollte. Denn wir sind ja in Wahrheit schon im Krieg mit Russland, nur dass dieser Krieg eben mit Cyberangriffen hybrid geführt wird und nicht mit Panzern. Olaf Scholz scheut dieses Risiko und man muss dem Kanzler zutrauen, dass er das beurteilen kann. Ich glaube nicht, dass er es aus innenpolitischen Gründen oder aus Angst vor Widerstand in der SPD nicht getan hat. Aus der SPD hat er doch letztlich nichts zu befürchten. Sie ist eine kleine Partei geworden, auch intellektuell. Es gibt keinen Herbert Wehner oder Franz Müntefering mehr, der das Interesse der Partei höher gewichtet als die einzelne Person und die schon mal Kanzler und Kanzlerkandidaten austauschten, als ihnen die Amtsinhaber oder der Kandidat zu schwach erschien. Solche Personen, die nichts für sich selbst wollen, sondern die nur die Sorge um die Existenz der SPD umtreibt, gibt es in der heutigen SPD-Führung nicht mehr. Vor einer aufmüpfigen SPD muss Scholz keine Angst haben. Er muss vielmehr Sorge haben, dass alte und neue Ressentiments unter dem Deckmantel der Friedenspolitik wieder salonfähig werden. Denn genau das tut aktuell Sahra Wagenknecht mit ihrer BSW und die AfD ohnehin.

Welche Ressentiments meinen Sie?

Antiamerikanismus zum Beispiel. Was BSW und AfD betreiben, hat leider in Deutschland eine ganz alte Tradition. Wir erinnern uns meist nur an den Antiamerikanismus von Links, den es zur Zeit des Vietnamkriegs und auch danach gab. Aber es gibt auch einen Antiamerikanismus von Rechts, der seine Ursprünge bis zurück ins 19. Jahrhundert reichen. Sie finden ihn bis tief hinein in die Literatur und Kunst. Amerika als Land der Moderne, der Demokratie wurde früh von Deutschlands reaktionären Rechten abgelehnt. Modernität, Demokratie und Kapitalismus galt als „undeutsch“. Die deutsche Seele, so hieß es damals, sei vielmehr verwandt mit der russischen Seele. Dieser alte reaktionäre Antiamerikanismus erhebt derzeit wieder sein Haupt. Das ist der Grund, warum die AfD bei den Anti-Corona- Demonstrationszügen vor der russischen Botschaft „Putin Putin“ rief. Und das ist das antiamerikanische Ressentiment, dass sich hinter der national-bolschewistischen Politik von Frau Wagenknecht versteckt.