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EU-Strategie zur Verteidigung„Moment für Aufrüstung ist gekommen“

Lesezeit 4 Minuten
ARCHIV - 11.09.2024, Irland, Co Meath: Irische Truppen nehmen an der nationalen Zertifizierungsübung der EU Battlegroup im Lager Gormanstown teil.

Spätestens 2030 sollen die Streitkräfte der EU-Staaten Fähigkeitslücken geschlossen haben.

Die EU plant massive Investitionen zur Stärkung ihrer Verteidigungsfähigkeiten. Ein Weißbuch betont die Dringlichkeit wegen aktueller Bedrohungen. Hauptziel: volle Bereitschaft bis 2030.

Offenbar klang der Ton zu martialisch für einige EU-Spitzen. „Will Europa einen Krieg vermeiden, muss es auf einen Krieg vorbereitet sein.“ So begann das Strategiepapier der EU-Kommission zur Verteidigung in einer früheren Version – es waren jene Worte, die auch Ursula von der Leyen am Mittwoch noch bei einer Rede benutzt hatte.

In letzter Minute aber schwächte die Brüsseler Behörde die Einführung ab: Europa sei „mit einer akuten und wachsenden Bedrohung konfrontiert“, heißt es in der Endfassung des sogenannten Weißbuchs zur Verteidigung, das die Kommission am Mittwoch in Brüssel vorstellte. „Der einzige Weg, wie wir Frieden sichern können, ist die Bereitschaft, diejenigen abzuschrecken, die uns schaden wollen.“

Trotz der Abmilderung liest sich die Bestandsaufnahme teils dramatisch. Obwohl die Ausgaben in dem Sektor in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen seien, starte Europa „nach jahrzehntelangen Unterinvestitionen“ mit einem Rückstand. Die größten Lücken identifizierte die Behörde unter anderem bei der Luft- und Raketenabwehr, bei modernen Artillerie- und Langstreckenraketensystemen, bei Munition und Raketen, bei Drohnen und entsprechenden Abwehrsystemen, aber auch bei Künstlicher Intelligenz, Cyber-Kriegsführung und beim Schutz kritischer Infrastrukturen. „Der Moment für eine Aufrüstung Europas ist gekommen.“

Beispielloser Wandel der internationalen Ordnung

Auf 22 Seiten werden die Grundlinien und Ziele der künftigen Rüstungspolitik Europas ausgeführt. Die Verteidigungsausgaben massiv erhöhen, Fähigkeitslücken der Armeen schließen, die Rüstungsindustrie stärken – der Fahrplan soll die Weichen stellen für beispiellose Investitionen in die eigene Sicherheit, um für die aktuellen Bedrohungen, insbesondere durch Russland, gewappnet zu sein. Die internationale Ordnung wandle sich so stark wie seit 1945 nicht mehr, heißt es in dem Papier. Es gelte, sofort zu handeln. „Die Geschichte wird uns unsere Untätigkeit nicht verzeihen.“

Zu den empfohlenen Maßnahmen gehören eine verstärkte kollektive Beschaffung von Rüstungsgütern. Gemeinsame Produktionslinien und möglichst einheitliche Waffensysteme in großen Stückzahlen – die Behörde fordert eine noch engere Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten bei den Investitionen. Dabei müsse ein gemeinsamer EU-Rüstungsmarkt eine stärkere Rolle einnehmen.

Bislang kaufen die Europäer häufig von Nicht-EU-Herstellern, etwa in den USA. Das soll sich ändern, auch aufgrund der außenpolitischen Kehrtwende der Amerikaner und der Unberechenbarkeit des US-Präsidenten Donald Trump. Die Beschaffung und das Auffüllen der eigenen Munitions-, Waffen- und militärischen Ausrüstungsbestände zähle ebenfalls zu den Prioritäten für die EU-Länder. Das erklärte Ziel: „volle Bereitschaft“ bis 2030.

Der Mehrwert, den die Europäer durch ihre Zusammenarbeit schaffen, sei „unbezahlbar“ sagte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas. Dieser bringe dem Kontinent einen Wettbewerbsvorteil, „der in der Welt seinesgleichen sucht“.

Als Schwerpunkt stellte die Kommission zudem die weitere Unterstützung der Ukraine dar. Das kriegsgebeutelte Land soll in ein „stählernes Stachelschwein“ verwandelt werden. Das heißt, es so weit zu stärken, dass es „in der Lage ist, mögliche weitere Angriffe abzuschrecken und einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten“. Könne Russland seine Ziele in der Ukraine erreichen, würden seine territorialen Ambitionen „darüber hinausgehen“. Nach Einschätzung westlicher Geheimdienste rüstet Russland für einen möglichen Krieg gegen EU-Staaten auf, wie der zuständige EU-Kommissar Andrius Kubilius betonte.

EU-Gipfel in Brüssel startet am 20. März

An diesem Donnerstag kommen die 27 Staats- und Regierungschefs zum EU-Gipfel in Brüssel zusammen, auf der Agenda steht auch das Weißbuch. Ziehen alle 27 Partner mit? Die empfohlene Verteidigungsstrategie funktioniert lediglich dann, wenn Europas Regierungen auf nationale Alleingänge bei Waffenkäufen verzichten. Der sozialdemokratische EU-Parlamentarier Tobias Cremer sagte, es sei „wichtig, dass Europa nicht nur aufwacht, sondern auch aufsteht“.

Doch vorneweg bei der Frage des Geldes droht Streit. Staaten wie Frankreich, Italien oder Spanien sind hochverschuldet. Da dürfte auch der kürzlich präsentierte Plan zur Wiederaufrüstung Europas nur bedingt helfen, nach denen die EU-Länder dabei unterstützt werden sollen, ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen.

Dafür sollen jene, die mehr für ihre Sicherheit ausgeben, zusätzliche Flexibilität erhalten, um innerhalb der strikten EU-Schuldenregeln zu agieren. Indem die Haushaltsvorschriften mittels einer nationalen Ausnahmeklausel gelockert werden, bekommen die nationalen Regierungen somit mehr Spielraum.

Zum anderen ist das Ziel, ein neues Finanzinstrument zu schaffen, das EU-Darlehen an die Hauptstädte weiterleiten würde. So sind Kredite aus einem Fonds in Höhe von 150 Milliarden Euro vorgesehen, der Investitionen in die Luft- und Raketenabwehr, in Artilleriesysteme, Munition und kritische Infrastruktur, Drohnen sowie Cybersicherheit erleichtern soll. Doch Paris, Madrid oder Rom lehnen neue nationale Schulden für die Verteidigung eigentlich ab und wünschen sich vielmehr gemeinsame Schulden oder Zuschüsse, die sie nicht zurückbezahlen müssen.