Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Erdogan lässt Imamoglu verhaften„Wir wachten in Russland auf“

Lesezeit 4 Minuten
Spontaner Protest in Istanbul: Mit Bildern von Ekrem Imamoglu demonstrieren Menschen vor dem Sitz der Sicherheitsbehörde.

Spontaner Protest in Istanbul: Mit Bildern von Ekrem Imamoglu demonstrieren Menschen vor dem Sitz der Sicherheitsbehörde. 

Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu ist wegen abenteuerlich erscheinender Vorwürfe festgenommen worden. So will der türkische Präsident offenbar seinen größten Rivalen kaltstellen.

Ekrem Imamoglu knöpft seinen Hemdkragen zu, bindet die Krawatte und spricht dabei eindringlich in die Kamera. „Vor der Tür stehen hunderte Polizisten“, sagt der Istanbuler Oberbürgermeister in einem Video, das er bei Morgengrauen am Mittwoch in seinem Ankleidezimmer aufnimmt. Der 53-jährige lädt den Clip anschließend in den sozialen Medien hoch, während die Beamten vor seinem Haus auf ihn warten, um ihn festzunehmen. Denn Präsident Recep Tayyip Erdogan will seinen chancenreichsten Herausforderer aus dem Verkehr ziehen. Damit überschreitet die Türkei eine Grenze.

Die Regierung verbietet alle Kundgebungen in der 16-Millionen-Stadt für vier Tage und lässt die U-Bahnstation am zentralen Taksim-Platz sperren, um Proteste gegen die Festnahme des Bürgermeisters zu verhindern. Polizeifahrzeuge blockieren eine Hauptverkehrsstraße in der Nähe des zentralen Istanbuler Polizeipräsidiums, in dem Imamoglu am Vormittag verhört wird. Die Polizei sei überall, raunen sich Passanten in der Istanbuler Innenstadt zu. Der Wert der Lira sackt um zeitweise zwölf Prozent ab, die Kurse an der Istanbuler Börse fallen so drastisch, dass der Handel ausgesetzt wird. Gegen Mittag drosseln die Behörden die sozialen Medien.

Putsch-Atmosphäre liegt in der Luft, auch wenn es diesmal die Regierung ist, die ihre Gegner festsetzen lässt. „Wir gingen gestern Nacht in der Türkei schlafen und wachten heute Morgen in Russland auf“, sagt der Politologe und Kolumnist Yildiray Ogur unserer Redaktion.

Mit Imamoglu werden rund hundert weitere Oppositionspolitiker, Berater und regierungskritische Journalisten festgenommen. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft wirft Imamoglu vor, er habe mit der kurdischen Terrororganisation PKK zusammengearbeitet, um sich bei den Kommunalwahlen im vorigen Jahr die Wiederwahl zu sichern. Außerdem habe sich Imamoglu als „Chef einer profitorientierten kriminellen Organisation“ mit Korruption, Schutzgelderpressungen und der Manipulation von Ausschreibungen bereichert.

Jahrelange Haftstrafe und politisches Betätigungsverbot drohen

Imamoglu regiert Istanbul seit sechs Jahren. Bei einer Verurteilung drohen ihm eine jahrelange Haftstrafe und ein politisches Betätigungsverbot. Sollte nach dem Verhör ein Haftbefehl gegen ihn ergehen, könnte er abgesetzt und durch einen Zwangsverwalter der Erdogan-Regierung ersetzt werden. Er werde weiterkämpfen, kündigt Imamoglu in seiner Videobotschaft vor der Festnahme an.

Türkische Regierungsgegner kritisieren seit Jahren den autokratischen Kurs der Erdogan-Regierung. Der mittlerweile 71-jährige will sich bei der nächsten Wahl, die in spätestens zweieinhalb Jahren stattfinden muss, wiederwählen lassen, doch in den Umfragen liegt er derzeit hinter Imamoglu. Jetzt habe Erdogan die Endphase eines „Putsches von oben“ eingeleitet, sagte der Politologe Murat Somer von der Istanbuler Özyegin-Universität im Gespräch mit unserer Redaktion: Der Begriff „Putsch von oben“ oder „Auto-Coup“ beschreibt den Coup einer gewählten Regierung gegen Institutionen oder Gegner, um sich illegal an der Macht zu halten.

Die Vorwürfe der regierungstreuen Justiz gegen Imamoglu sind teils alt, teils absurd, doch der Zeitpunkt der Festnahme ist sorgfältig gewählt. Am kommenden Sonntag will seine Partei CHP in einer Mitgliederbefragung ihren Präsidentschaftskandidaten küren. Imamoglu ist der große Favorit: Als gewählter Kandidat der größten Oppositionskraft hätte er ein landesweites Mandat, um Erdogan herauszufordern. Das will die Regierung verhindern und zieht dabei alle Register. Am Abend vor der Festnahme entzogen die Behörden dem Bürgermeister seinen Hochschulabschluss, der für eine Anmeldung als Präsidentschaftskandidat notwendig ist.

CHP-Chef Özgür Özel erklärte am Mittwoch gleichwohl, seine Partei halte an der Abstimmung fest. Er verglich Erdogan mit General Kenan Evren, den Anführer des türkischen Militärputsches von 1980. Der Politologe Berk Esen von der Sabanci-Universität in Istanbul geht noch weiter zurück: Seit der Einführung des demokratischen Systems in der Türkei in den 1940er Jahren habe das Land „keine solche autokratische Phase unter einer zivilen Regierung erlebt“, sagte Esen im Gespräch mit unserer Redaktion. „Furchtbar.“

Erdogan gefährdet Beziehung zur EU

Erdogan geht mit Imamoglus Festnahme ein Risiko ein. Außenpolitisch gefährdet er seine Annäherung an die EU, die er für eine Erholung der türkischen Wirtschaft braucht. Der Präsident wirbt seit Wochen für engere politische und militärische Beziehungen zwischen der Türkei und Europa, doch daraus dürfte nun erst einmal nichts werden. Der Politikwissenschaftler Somer warnte bereits, die EU mache sich zu Erdogans Komplizin, wenn sie nach Imamoglus Festnahme nicht schnell und entschlossen handele.

Noch größer ist Erdogans innenpolitisches Risiko. „Das kann für ihn nach hinten losgehen“, sagt Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz. Er erinnerte im Gespräch mit unserer Redaktion daran, dass Erdogan selbst Ende der 1990er Jahre als Istanbuler Oberbürgermeister von den türkischen Behörden mit fadenscheiniger Begründung ins Gefängnis gesteckt wurde. Dieses Schicksal habe Erdogan erst beliebt gemacht: „Die türkische Gesellschaft hat viel Sympathie für Politiker, die zum Opfer von Unrecht und Verfolgung werden.“