Mehr als nur ein Nachholeffekt nach dem Pandemiejahr 2019: Die Zahl der Kirchenaustritte steigt im Rheinland massiv.
Die Rundschau hat exklusiv die aktuellen Zahlen bei den Amtsgerichten erhoben.
Köln – Es sind dramatische Zahlen. 1500 Termine für den Kirchenaustritt bietet das Amtsgericht Köln pro Monat an. Bis Mitte Januar 2022 sind sie alle ausgebucht, sagt Gerichtssprecher Maurits Steinebach. Nur vorübergehend – dank kurzfristiger Absagen – wurden für heutigen Elften im Elften einige Zeitfenster frei, sie sind längst wieder geschlossen. Per Notar eingereichte Austrittserklärungen kommen dazu. Bis zum Jahresende werden rund 20 000 Kölnerinnen und Kölner ihren Austritt aus ihrer Kirche erklärt haben.
Wie entwickeln sich die Zahlen?
Auch bei anderen Gerichten steigen die Austrittszahlen massiv. Das zeigt eine Umfrage der Rundschau bei Amtsgerichten der Region und in Großstädten auf dem Gebiet des Erzbistums Köln (siehe Tabelle). Eklatant ist die Entwicklung in Köln: 15 339 Menschen haben hier allein in den ersten drei Quartalen des Jahres 2021 ihren Kirchenaustritt erklärt. Das sind dreimal so viele wie in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 (5013) und mehr als doppelt so viele wie im Gesamtjahr 2020. Dieser Vergleich sagt noch nicht viel, denn im Frühjahr 2020 war wegen der Corona-Pandemie nur ein stark eingeschränkter Gerichtsbetrieb möglich. Das ganze Ausmaß zeigt der Entwicklung zeigt sich beim Blick auf 2019: Die Austrittszahlen sind doppelt so hoch wie in den Vergleichsquartalen dieses „normalen“ Geschäftsjahrs. Und: Bereits jetzt sind in Köln anderthalb mal so viele Menschen aus den Kirchen ausgetreten wie im gesamten Jahr 2019.
Ähnlich in Bonn: Hier gab es in den ersten drei Quartalen des Jahres 2021 bereits 143 Prozent der Kirchenaustritte des Gesamtjahres 2019. Anderswo ist der Anstieg geringer. In Waldbröl und Wipperfürth zum Beispiel entspricht der Wert der ersten drei Quartale 2021 zufällig genau dem des Gesamtjahres 2019, am Jahresende mag man also ein Drittel mehr Austritte zählen als im Jahr vor der Pandemie.
Große Ausnahmen sind Düsseldorf und Solingen. Hier gibt es keine derartige Zunahme. Den 1500 monatlichen Terminen in Köln stehen 336 in Düsseldorf gegenüber – ein Engpass, der seit Monaten zu Streit mit Kirchenkritikern führt. Von den Amtsgerichten Königswinter und Schleiden sowie aus Remscheid waren keine Zahlen zu erhalten. Gegenproben: In Münster ist die Entwicklung ähnlich – 3440 Austritte in den ersten drei Quartalen, das sind 413 oder 13 Prozent mehr als im Gesamtjahr 2019. In Aachen sind es mit 3389 zwölf weniger als im Gesamtjahr 2019. Auch diese Gerichte registrierten 2020 starke Einbrüche (auf jeweils 2601).
Wie ist die Verteilung auf die Konfessionen?
Nur ein Teil der Amtsgerichte zählt Austritte getrennt nach Konfessionen. In den Metropolen Köln und Düsseldorf ist das nicht der Fall. Aber wo es geschieht, ist der Befund klar: Der Anteil austretender Katholiken steigt.
In Bonn waren in früheren Jahren regelmäßig gut 60 Prozent der Austrittskandidaten katholisch, noch 2020 betrug dieser Wert 62,1 Prozent. Im bisherigen Verlauf des Jahres 2021 schnellte er auf 70,7 Prozent hoch. Auch andernorts entsprach die Konfessionsverteilung von 2020 weitgehend der des „normalen“ Jahrs 2019 (in Solingen ging der Anteil der ausgetretenen Katholiken 2020 sogar erkennbar – auf 42,8 Prozent – zurück), 2021 dann gibt es deutliche Ausschläge zu Lasten der katholischen Kirche.
„Mit großer Sorge“ sieht Markus Hofmann, Delegat des Erzbistums Köln, die Zahlen. Als Delegat vertritt Hofmann sich während der Auszeit von Rainer Maria Kardinal Woelki sozusagen selbst in seinem „normalen“ Amt als Generalvikar. Ihm wird klar sein: Zwar kann man die Zahlen aus der Stadt Köln nicht einfach hochrechnen, aber die Entwicklung wird das größte deutsche Bistum hart treffen. Der bisherige Negativrekord des Jahres 2019 dürfte weit überboten werden. Damals hatte es im Erzbistum erstmals mehr Austritte (24 298) als kirchliche Bestattungen (18 722) gegeben.
Wo liegen die Ursachen der Austrittswelle?
„Jeder einzelne Austritt tut weh, da er immer auch ein Zeichen der inneren Distanzierung ist und uns schmerzlich vor Augen führt, dass unsere Kirche viele Menschen nicht mehr erreicht“, so Hofmann gegenüber der Rundschau. Jens Peter Iven, Sprecher der Evangelischen Kirche im Rheinland, sieht es ähnlich. Es gebe selten nur einen einzelnen Austrittsgrund. „Den meisten Austritten ist aber gemeinsam, dass ihnen ein Bindungsabbruch vorausgeht.“
Das Verfahren
Katholische Bistümer und evangelische Landeskirchen sind keine Vereine, sondern Körperschaften des öffentlichen Rechts. Das gilt auch für die Alt-Katholische Kirche und die jüdischen Gemeinden. Wer hier austreten will, muss seinen Willen beim für seinen Wohnort zuständigen Amtsgericht erklären. Das kann persönlich geschehen (Gebühr 30 Euro) oder über ein notarielles Dokument, für das weitere Kosten entstehen.
221 390
Katholiken und nach vorläufigen Zahlen 200 000 Protestanten haben 2020 ihre Kirche verlassen. Im Jahr 2019 waren es 272 771 Katholiken und 266 738 Protestanten. (rn)
Das entspricht der Erfahrung des in Münster lehrenden Religionssoziologen Detlef Pollack. Er hat zwar noch noch keine belastbaren aktuellen Zahlen, meint aber: „Tatsächlich verlassen vor allem Menschen mit einer schwachen kirchlichen Bindung die Kirche. Das ist seit Jahrzehnten so und auch jetzt, trotz einiger spektakulärer Gegenbeispiele, nicht anders.“ Pollack vermutet zudem Nachholeffekte nach dem Corona-Jahr 2020 – ein Jahr, in dem auch die Zahl der Taufen und Trauungen massiv eingebrochen war. „By the way: Viele der pandemiebedingt aufgeschobenen Taufen werden aktuell nachgeholt“, meint Iven.
Allerdings: Die Zahlen steigen vielerorts so stark, dass die Delle des Jahres 2020 mehr als nur ausgeglichen wird. Auch im Durchschnitt der Jahre 2020 und 2021 werden in Köln voraussichtlich 3000 Menschen mehr ausgetreten sein als 2019. Im Bonner Gerichtsbezirk werden es, wenn die Entwicklung anhält, 900 mehr – und nach den dortigen Zahlen geht die Entwicklung vor allem aufs katholische Konto.
Oft seien die Gründe „hausgemacht“, sagt Bettina Heinrichs-Müller, stellvertretende Vorsitzende des Diözesanrats der Katholiken. „Missbrauch, Rolle der Frau beziehungsweise Verweigerung der Frauenweihe, das Gefühl, nicht gesehen oder gehört zu werden, das sind die Themen, welche die Menschen, quer durch alle Generationen, kirchenfern und kirchennah, zum Austritt treiben.“ Das treffe auch Tiefgläubige. Zudem verweist sie auf das „Allein-Lassen junger Menschen“.
Wie können die Kirchen gegensteuern?
Markus Hofmann räumt ein, „dass sich die klassische Form des kirchlichen Miteinanders an vielen Stellen nicht mehr in der Lebensrealität der Menschen wiederfindet“. Iven sagt, gestützt auf Studien über evangelische Kirchenmitglieder: „Wer seine Pfarrerin/seinen Pfarrer persönlich kennt, ist deutlich weniger geneigt auszutreten als jemand, der keinen Kontakt hat.“ Bei 20- bis 40-Jährigen sei die Austrittsquote besonders hoch. Die Landeskirche – sie ist mit 2,4 Millionen Christen größer als das Erzbistum Köln (1,9 Millionen) – will diese Altersgruppe besonders in den Blick nehmen.
Auf katholischer Seite sieht Hofmann im vom Papst ausgerufenen synodalen Prozess eine große Chance dafür, dass die Kirche „eine für die gesamte Gesellschaft relevante Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu“ bleibt. Heinrichs-Müller nimmt dagegen die Bistumsleitung in die Pflicht. Sie verweist auf die Auseinandersetzungen im Erzbistum. Manche Menschen fragten sich bewusst, ob sie noch Teil dessen sein sollten, andere hätten schon keine feste Bindung zu einer Gemeinde mehr und sähen jetzt eine „rote Linie“ überschritten. „Beides schmerzt. Beides kann verhindert werden. Offene und ehrliche Kommunikation auf Augenhöhe wäre ein guter, wie auch eigentlich selbstverständlicher, Anfang gewesen.“