Bundeswehr-Experten zur UkraineWarum in großen Teilen der Welt Hungersnöte drohen
Köln – Raimund Neuß sprach mit Torben Keitel, Patrick Rothehüser und Tobias Kollakowski – drei Marineexperten des German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS), einer Denkfabrik der Bundeswehr.
Es ist Juli, die Ukraine bringt die Getreideernte ein, ohne Exportmöglichkeit droht eine Hungerkatastrophe in großen Teilen der Welt. Sehen Sie Chancen, dass die Ukraine so weit die Kontrolle über ihre Küstengewässer zurückgewinnt, dass Getreideexporte auf dem Seeweg möglich werden?
Rothehüser: Den ukrainischen Streitkräften ist es seit April gelungen, entlang der noch nicht eroberten Gebiete eine Verteidigungslinie mit Flugkörpern aufzubauen, die von Land aus auf Seeziele abgeschossen werden können. Damit verwehren sie den Russen weitgehend den Zugang zu den Seegebieten vor ihrer Küste. Der bekannteste Vorgang war die Versenkung des russischen Kreuzers und Führungsschiffes „Moskwa“ Mitte April. So machen die Ukrainer es der russischen Marine schwer, näher als etwa 100 Kilometer an ihre Küsten heranzukommen. Auch wenn die verfügbaren Flugkörper weiter reichen, können sie durch das ukrainische Militär nicht bis zur maximalen Entfernung eingesetzt werden, da vor dem Abschuss das jeweilige Ziel identifiziert werden muss. Dadurch, dass das russische Militär derzeit die Schlangeninsel nicht mehr nutzen kann, hat sich die Lage für die Ukraine verbessert, aber ein „Game-changer“ war das nicht.
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Reedereien
Der Verband deutscher Reeder (VDR) steht wegen eines möglichen „Getreide-Korridors“ in Kontakt mit der Bundesregierung. Gegenüber der Rundschau verweis der Branchenverband darauf, dass die Internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO sich hier pessimistisch geäußert habe. Es gebe die Befürchtung, dass eine Öffnung der Minengürtel im Schwarzen Meer vom russischen Militär ausgenutzt werden könnte. „Vor diesem Hintergrund erscheint es eher unrealistisch, dass eine zeitnahe Möglichkeit zur Ausfuhr des Getreides über ukrainische Häfen bestehen wird.“ Die Lage in ukrainischen Gewässern gelte als äußerst unsicher. Es sei unklar, welche neutrale Nation e Geleitschutz für Handelsschiffe stellen könnte.
„Bis dahin werden andere EU Häfen wie etwa Constanta und Varna (in Bulgarien,), aber auch Häfen an der Nord- und Ostsee zur Ausfuhr des Getreides aus der Ukraine genutzt“, erklärt der VDR.Wegen der „Flaschenhälse der Landinfrastruktur“ ließen sich große Mengen so nur langsam bewegen. (rn)
Alternativen zu ukrainischen Seehäfen
22 Millionen Tonnen Getreide lagern nach Schätzung des Internetportals Kyivindependent noch in ukrainischen Silos. Andere Angaben liegen höher (bis zu 40 Millionen). 35 Millionen Tonnen werden durch die Ernte dieses Jahres hinzukommen. Davon sind gut 22 Millionen Tonnen Brotweizen – ungewöhnlich wenig: Nach Prognosen aus Satellitenaufnahmen wird die Ernte dieses Getreides in der Ukraine in diesem Jahr 17 Prozent unter dem langjährigen Durchschnitt liegen. Eine Folge vor allem der Trockenheit.
95 Prozent der ukrainischen Getreideexporte erfolgten vor dem Krieg über die Seehäfen des Landes – vor allem Odessa, Mykolajiw und das nunmehr russisch besetzte Cherson. Derzeit kann die Ukraine pro Monat nur noch 1,5 bis zwei Millionen Tonnen Getreide ausliefern – ein Zehntel der Vorkriegsmenge. Exportiert wird per Bahn, Lkw oder Binnenschiff.
1520 Millimeter beträgt die Spurweite der ukrainischen Bahn – 8,5 Zentimeter mehr als die im größten Teil Europas übliche Normalspur, die auch in Rumänien und Polen verwendet wird. Deshalb muss an der Grenze umgeladen werden. Eine Breitspurstrecke führt von der Ukraine nach Südpolen in die Nähe von Kattowitz. Auch hier muss dann umgeladen werden.
3 Binnenhäfen der Ukraine im Donaudelta sind für Getreideverladung geeignet. Von dort kann das Korn per Schiff zum rumänischen Seehafen Constanta gebracht werden, dessen Verladeanlagen allerdings jetzt schon ausgelastet sind. Eine weitere Option ist der rumänische Donauhafen Galati (Galatz), der auch von kleinen Seeschiffen angefahren wird. Um ihn per Bahn zu erreichen, mussten zunächst gut 30 Kilometer Breitspurgleis wiederhergestellt werden – das ist mittlerweile geschehen. (rn)
Was bedeutet Verwehren genau?
Rothehüser: Verwehren, oder englisch denial, heißt: Überwasserkräfte der russischen Marine können sich der ukrainischen Küste nicht oder nur mit erheblichem Risiko nähern. Die Russen können aber in diesen Bereich mit Waffen hineineinwirken und mit U-Booten operieren. Und wir wissen auch, dass im Hafenbereich noch Minen liegen. Das Verwehren der Nutzung durch russische Kriegsschiffe allein kann folglich keine Sicherheit für einen etwaigen Getreidetransport in diesem Gebiet garantieren. Am besten wäre das möglich, wenn die russische Föderation garantiert, dass sie eine Durchfahrt zulässt und nicht eingreifen wird. Die zweite Möglichkeit wäre ein geschützter Verband, ein Geleitzug wie im Zweiten Weltkrieg. Aber das könnte zu einem Waffeneinsatz führen. Die begleitenden Kriegsschiffe müssten gegebenenfalls gegen angreifende Schiffe, U-Boote, Flugzeuge oder Drohnen vorgehen.
Nun hat Russland ja bei der Räumung der Schlangeninsel gesagt, dies sei doch ein Zeichen des guten Willens, um Getreidetransporte zu ermöglichen. Wann wäre so eine Aussage überhaupt glaubwürdig, dass sich Reeder und ihre Versicherungen darauf einlassen können?
Rothehüser: Das ist eine gute Frage. Zu Beginn des Krieges hat Russland einige Handelsschiffe angegriffen und sogar versenkt. Spätestens seit diesem Vorgang ist die Glaubwürdigkeit Russlands schwer erschüttert. Es ist letztlich eine politische Frage.
Kollakowski: Die Russen haben das gesamte nordwestliche Schwarze Meer zu einem einzigen großen Warngebiet erklärt. Ob die Schlangeninsel von ihnen weiter besetzt ist, macht da keinen großen Unterschied. Die Russen sind nach dem Untergang der „Moskwa“ zur Fernblockade übergegangen. Sie können jeden Transport unterbrechen. Beide Seiten instrumentalisieren das globale Interesse im Zuge der humanitären Lebensmittelproblematik, um ihre Partikularinteressen zu fördern. So hat Russland die potenzielle Möglichkeit eines Seetransportes mit dem Räumen ukrainischer Minen an der Schwarzmeerküste verbunden. Die Ukraine antwortete, keine einzige Mine werde geräumt, solange die Gefahr eines russischen Landungsunternehmens nicht gebannt sei. Umgekehrt zielen ukrainische Vorschläge zur Durchführung von Seetransporten unter Eskorte insbesondere britischer oder US-amerikanischer Kriegsschiffe darauf ab, Präsenz von Nato-Einheiten im Konfliktraum zu ermöglichen. Russland hat das sofort abgelehnt. Man muss also immer fragen, wem welches Angebot nutzt. Alles in allem sehe ich keine Chancen für eine Vereinbarung. Russland will die Ukraine wirtschaftlich strangulieren. Dazu dient die Blockade. Solange sich die politischen Zielsetzungen auf beiden Seiten nicht ändern, sind operative Überlegungen, etwa über einen minenfreien Kanal, zweitrangig.
Können wir als Nato-Staaten denn einfach so hinnehmen, dass ein so großer Teil des Schwarzen Meers zum Warngebiet erklärt wird und praktisch nicht befahrbar ist?
Kollakowski: Angesichts der Versenkung oder zumindest schweren Beschädigung von mindestens drei zivilen Handelsschiffen und der anhaltenden Fernblockade wird kein Reeder seine Schiffe in dieses Gebiet schicken und kein Versicherer so eine Fahrt versichern wollen. Damit hat Russland sein Ziel erreicht. Seerechtlich ist das reine Ausrufen eines Warngebiets zulässig. Die Blockade, die schon vor dem Konflikt begann, ist allerdings nicht legitim.
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Keitel: Die Deklaration eines Warngebietes zur Warnung der Schifffahrt vor Gefahren ist, ähnlich wie auch im Flugverkehr, in militärischen Operationen durchaus üblich. Auch die Nato hat so ein Warngebiet im Kosovo-Krieg ausgerufen. Es handelt sich somit in erster Linie um ein etabliertes und anerkanntes Verfahren in internationalen bewaffneten Konflikten, unabhängig von der Bewertung der Sekundärfolgen. Diese Folgen bestehen nun darin, dass durch die Warnung in dem betroffenen Gebiet die Versicherungsprämien für Handelsschiffe extrem steigen, was zu einer de-facto-Blockade jedweden Schiffsverkehrs führt. Damit dies nicht passiert, wird üblicherweise das Warngebiet geografisch begrenzt oder der Schiffsverkehr durch eine Konfliktpartei oder einen Dritten umgeleitet. Die Durchführung der durch Tobias Kollakowski angesprochenen Blockade ist in der Beziehung natürlich völlig anders zu bewerten, da es sich in der Tat um eine komplette Abriegelung des Schiffsverkehrs handelt. Die Nato hat dieses Vorgehen daher auch klar verurteilt.
Rothehüser: Natürlich gibt es drei Nato-Anrainerstaaten am Schwarzen Meer. Die könnten zeigen, dass es sich um internationale Gewässer handelt, indem sie diese befahren. Aber das ist äußerst heikel. Der US-Admiral und frühere Nato-Oberbefehlshaber in Europa James Stavridis hat vor Kurzem gesagt, dass auf diese Weise eine weitere Frontlinie entstehen könnte. Wenn man es darauf ankommen lassen will, das berechtigte internationale Interesse am freien Schiffsverkehr im Schwarzen Meer durchzusetzen, wäre die Gefahr groß, dass die Nato in den Konflikt hineingezogen würde.
Wir hören von Angriffen auf die Hafenstädte Cherson und Melitopol. Wird die Ukraine die Chance haben, größere Teile ihrer Schwarzmeerküste zurückzugewinnen?
Kollakowski: Ich wäre vorsichtig, von einer Gegenoffensive zu sprechen. An der Südflanke gibt es immer wieder nur geringe Raumgewinne durch beide Seiten. Es ist eher eine dynamische Verteidigung. Beide Seiten versuchen, sich kleine Vorteile zu verschaffen. Ich sehe keinen großen, operativen Durchbruch. Zudem wäre ich vorsichtig, den jüngsten Raketenangriff auf Stellungen bei Melitopol mit dem Asowschen Meer und der Küste in Verbindung zu bringen. Die Ukrainer versuchen einfach, die Russen dort zu treffen, wo sie besonders verwundbar sind. Man trifft – auch mit Sabotageakten – die russische Logistik und Kampfunterstützung im rückwärtigen Raum und hat auch ein politisches Ziel: Russland versucht, diese Gebiete zu russifizieren. Da ist es aus ukrainischer Sicht ein wichtiges Signal auch gegenüber Überläufern: Wir sind noch da, wir könnten zurückkehren, und Überläufer können sich dann auf etwas gefasst machen.