Köln – Die Kölner Bundestagsabgeordnete und Verteidigungsexpertin Serap Güler war mit Fraktionskollegen in der Ukraine. Im Rundschau-Interview warnt sie: Ohne mehr Unterstützung droht der Ukraine eine Niederlage.
Sie kommen gerade aus der Ukraine zurück. Was haben Sie erlebt, wie ist ihr Eindruck von der Lage im Land?
Wir sind mit dem Nachtzug von Polen nach Kiew gefahren, 14 Stunden lang. Der erste Eindruck an so einem Morgen in Kiew ist Normalität, Menschen an Bushaltestellen, man sieht im Stadtzentrum nichts vom Krieg. Wenn Sie dann mit den Menschen sprechen, merken Sie die Anspannung. Vor ein paar Tagen wurde da noch ein Wohnhaus beschossen, die Gefahr ist sehr nah. Auch wenn Sie es tagsüber nicht sofort sehen. Nachts ist es anders. Es gibt eine Ausgangssperre. Wir sind in den Bahnhof gekommen. Er war völlig verdunkelt. Auch der Zug. Man achtet darauf, dass kein Licht brennt. Wir waren in Irpin, wo 70 Prozent der Stadt zerstört waren. Und in Borodjanka, auch dort große Zerstörungen. Schulen, Kindergärten, medizinische Einrichtungen, alles. Sie stehen vor Trümmerhaufen und merken, Sie stehen in einem Land, in dem Krieg herrscht.
Ist die Ukraine der Wucht der Angriffe, deren Folgen Sie da gesehen haben, überhaupt gewachsen?
Das ist sehr unterschiedlich. Wir haben uns mit dem Parlamentspräsidenten getroffen, mit dem Ministerpräsidenten, dem Verteidigungsminister und dem außenpolitischen Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Wir haben ihnen allen die Frage gestellt, die Sie eben gestellt haben, und sie haben geantwortet: Die Truppe ist hoch motiviert, und die Bevölkerung hofft in ihrer Mehrheit zwar auf ein Ende des Krieges, aber sie ist nicht bereit, irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Dementsprechend wird auch gekämpft. Aber man hat uns auch gesagt, dass die Ukraine derzeit täglich 500 Soldaten verliert. 200 Gefallene, 300 Verletzte. Pro Tag. Die Russen rücken jeden Tag Kilometer um Kilometer vor.
Unsere Gesprächspartner haben ganz deutlich gesagt: Entweder gewinnen wir diesen Krieg bis zum Winter – oder wir verlieren ihn, ausgehend von der aktuellen Situation. Wir verlieren ihn, wenn wir nicht weitere Waffen bekommen, um uns zu verteidigen, denn aufgrund der Witterungsverhältnisse sind die Russen dann klar im Vorteil. Sie haben mehr Soldaten, mehr Waffen, mehr Munition. An einem Tag gehen über 70500 Artilleriegeschosse auf ukrainische Ziele nieder, hat uns der Verteidigungsminister berichtet. Allein für den Transport solcher Mengen braucht man ungefähr 200 bis 300 Lkw. Diese Infrastruktur haben die Russen dort. Unsere Gesprächspartner sagten mir, dass sie derzeit nur reagieren können. Sie sind mit der Verteidigung beschäftigt und haben gar nicht die Möglichkeit, eine eigene Strategie aufzubauen.
Serap Güler: „Es geht nicht nur um Panzer, sondern auch um Munition"
Selenskyj spricht immer wieder von einer großen Gegenoffensive, auch wenn er das immer wieder vertagt. Ist das nur Pfeifen im Walde?
Nein, er verknüpft das ja mit einer konkreten Hoffnung: Darauf, dass mehr Hilfe aus dem Westen kommt. Es geht nicht nur um Panzer, über die wir immer sprechen, sondern auch um Luftabwehr, um Munition. Wenn da nicht schnell bald etwas folgt, dann müssen wir davon ausgehen, dass die Ukraine diesen Krieg im Winter verliert.
Können wir denn liefern, was die Ukraine brauchen würde? Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat gerade nochmal drei Panzerhaubitzen 2000 versprochen, aber deutlich gemacht, mehr könnten wir nicht leisten.
Da geht es um zwei Ebenen. Die Bundesregierung fokussiert den Blick zu sehr auf die Bundeswehr. Ja, es ist schwierig, aus deren Beständen noch mehr zu liefern. Wir als Unionsfraktion bringen jetzt den Antrag in den Bundestag ein, in dem wir die Bundesregierung auffordern, 200 gepanzerte Fuchs-Fahrzeuge zu liefern. Das sind keine Kampfpanzer. Die andere Ebene ist, dass wir als großes Industrieland durchaus die Möglichkeit haben, Waffen über die Rüstungshersteller zu liefern. Da gibt es ja eine Liste der Rüstungsindustrie. Rheinmetall hat 100 Marder-Schützenpanzer auf dem Werkshof stehen, im wörtlichen Sinne. 30 sind sofort lieferbar, die anderen müssen noch aufgearbeitet werden. Die Ukraine hat ja deutlich gemacht, dass es ihr nicht um Spenden geht. Sie ist durchaus in der Lage, Waffen zu kaufen.
Dazu braucht unsere Industrie aber die Ausfuhrgenehmigung des Bundessicherheitsrates. Und der Bundessicherheitsrat hat in diesem Jahr überhaupt noch nicht getagt, um solche Entscheidungen zu treffen. Insofern ist es Augenwischerei, wenn die Bundesregierung den Fokus ausschließlich auf die Bundeswehr richtet. Die hat begrenzte Mittel, aber über die Industrie würde einiges noch gehen. Auch da stellen wir eine Blockadehaltung fest.
Wenn die Ukraine den Krieg verlieren würde, was hätte das für Folgen? Gerade kürzlich haben Intellektuelle wieder gefordert, keine Waffen mehr zu liefern, sondern auf Verhandlungen zu drängen.
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Das sind Positionen, die kann man schön vom Schreibtisch aus vertreten. Aus dem Warmen, aus der Sicherheit heraus. Über den letzten Brief dieser Intellektuellen hat in der Ukraine niemand mit uns gesprochen. Aber wir haben über das Thema Verhandlungen gesprochen, und Sie bekommen von den ukrainischen Gesprächspartnern ein müdes Lächeln zurück. Sie sagen: Ihr müsst verstehen, dass Putin nicht verhandeln will. Er will uns vernichten. Wie kann mit jemanden verhandeln, der von Anfang bis Ende lügt und gar kein Interesse daran hat. Die Ukrainer versuchen mühsam, seit Wochen, über humanitäre Korridore mit Russland zu verhandeln. Man kommt nicht einen Schritt weiter. Wenn man nicht einmal das hinbekommt, wie will man dann über Frieden sprechen? Diese Gegenfrage bekommen Sie sofort gestellt, wenn Sie das Thema ansprechen.
Und wenn die Ukraine den Krieg verliert, hat Russland ihn gewonnen. Dann müssen wir uns darauf einstellen, dass das nicht der letzte Krieg sein wird, den Russland beginnt. Dann müssen wir uns auch fragen, was das für uns für Folgen haben wird. Auch, was das uns am Ende wirklich kosten wird, wenn ein Aggressor meint, einfach in ein Land einmarschieren zu können. Wäre Putins Durst mit der Ukraine wirklich gestillt? Ich bezweifle das.