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Blick in die KrisengebieteSo ist die aktuelle Lage in der Ukraine

Lesezeit 5 Minuten
Charkiw (1)

Charkiw: Ein Mann sucht in einem beschossenen Viertel von Charkiw in der Ostukraine nach Metallschrott

Schwere Kämpfe um Sjewjerodonezk: Russland will im Donbass zumindest einen Teilerfolg erringen und erhöht auch an anderen Fronten den Druck.l Ein Überblick über den Stand im Ukraine-Krieg – maßgeblich gestützt auf die Lageanalyse des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW), sofern keine anderen Quellen erwähnt sind:

Donbass

In den ukrainischen Oblasten (Bezirken) Donezk und Luhansk gibt es schwere Kämpfe. Der ukrainische Präsident Wolodymy Selenskyj sprach in einer Videobotschaft von der „Hölle im Donbass“. Nach dem Scheitern einer großen Umfassungsoperation versuchen die Russen die temporäre Hauptstadt des Oblast Luhansk, Sjewjerodonezk, von drei Seiten einzuzingeln. Die vierte Seite bildet das Ufer des Siwersky Donez – hier haben die russischen Truppen mindestens eine der beiden Brücken zur Nachbarstadt Lyssytschansk zerstört. Damit wird es der Ukraine massiv erschwert, Nachschub in die 100 000-Einwohner-Stadt zu bringen.ssen die temporäre Hauptstadt des Oblast Luhansk, Sjewjerodonezk, von drei Seiten einzuzingeln. Die vierte Seite bildet das Ufer des Siwersky Donez – hier haben die russischen Truppen mindestens eine der beiden Brücken zur Nachbarstadt Lyssytschansk zerstört. Damit wird es der Ukraine massiv erschwert, Nachschub in die 100 000-Einwohner-Stadt zu bringen.Am Freitag hatte der russische Verteidigungsminister Serej Schoigu erklärt, die „Befreiung der Luhansker Volksrepublik“ nähere sich dem Abschluss. Sjewjerodonezk und Lyssytschansk sind die beiden letzten Städte im Luhansker Gebiet, die der Ukraine verblieben sind. Könnte Schoigu seine Ankündigung wahrmachen, hätte Russland einen Teilerfolg errungen, während nach wie vor große Teile des Nachbargebiets Donezk unter ukrainischer Kontrolle sind. Russische Geländegewinne gibt es auch andernorts, so nach unbestätigten Berichten rund um den Ort Popasna.

Charkiw

Kleinere russische Offensiven werden auch aus der Umgebung der Metropole Charkiw gemeldet. Hier hatte die Ukraine die russischen Truppen stark zurückgedrängt. Hauptinteresse der Russen ist es, ihre Nachschublinien nach Isjum, also an die Donbass-Front, zu sichern, die nur wenige Kilometer am wieder von der Ukraine kontrollierten Gebiet vorbeilaufen und damit in Reichweite der ukrainischen Artillerie liegen.

Donbass

Donbass: Ukrainische Soldaten einer Aufklärungseinheit 

Der Süden

In Mariupol sollen sich nach russischen Angaben 2439 Ukrainer ergeben haben. Das ISW hält diese Zahl für möglicherweise überhöht. Nach der Räumung des Stahlwerks könnte Russland die bisher noch in Mariupol gebundenen Truppen an die Donbass-Front verlegen.

Mariopol

 Russische Soldaten gehen während einer Evakuierung in Mariupol die Straße zum belagerten Stahlwerk Azovstal entlang.

Weiter südlich, am Schwarzen Meer, bereitet Russland offenbar Offensiven gegen den noch nicht eroberten Rest des Bezirks Cherson und die Großstadt Saporischschja mit zu Friedenszeiten 760 000 Einwohnern vor.

Hinter der Front ist die russische Kontrolle über ukrainisches Gebiet nur unvollkommen. Bei Melitopol haben ukrainische Partisanen am Mittwoch einen Zug mit Treibstoff für die russische Armee angegriffen. Bürgermeister Iwan Fedorow, der sich inzwischen auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet aufhält, hat erklärt, in der Stadt hätten Partisanen bereits 100 russische Soldaten getötet. In Cherson forderten Plakate russische Soldaten zum Abzug auf, wenn ihnen ihr Leben lieb sei. Auch das ISW bestätigt in den Regionen Cherson und Melitopol seit Wochen anhaltende ukrainische Partisanentätigkeit.

Schlangeninsel

Nur relativ kurz schreibt das ISW über die Lage auf der Schlangeninsel vor der ukrainisch-rumänischen Grenze. Russland versuche seine Präsenz auch durch die Entsendung von zwei (nicht benannten) Kriegsschiffen und von Marschflugkörpern auszubauen. Die Kriegsschiff-Entsendung ist bemerkenswert, denn in den Wochen zuvor war Russland damit aus Furcht vor ukrainischen Angriffen sehr vorsichtig. Die Lage ist für die Ukraine bedrohlich, denn von der Schlangeninsel aus ließe sich der Luftraum dem Südwestzipfel des Landes kontrollieren wie das komplette Seegebiet vor der ukrainischen Schwarzmeerküste. Russland könnte die Blockade des Hafens Odessa dauerhaft aufrechterhalten.

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Zum Eindruck einer drohenden Eskalation passt eine Nachricht aus Washington: Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters überlegt die US-Regierung, der Ukraine Antischiffsraketen der Typen Harpoon (Reichweite 300 Kilometer) oder NSM (250 Kilometer) zu liefern. Ein bis zwei Dutzend solcher Raketen sollten ausreichen, um die etwa 20 russischen Kriegsschiffe in der Region von einer weiteren Blockade abzuhalten (und damit eine Hungersnot in von ukrainischem Getreide abhängigen Ländern mit Millionen Toten zu vermeiden) – offenbar genügen die ukrainischen Neptun-Marschflugkörper, mit denen im April die „Moskwa“ versenkt wurde, dafür nicht mehr. Umgekehrt rechtfertigte Russlands Vize-Außenminister Andrej Rudenko die Blockade mit den US- und EU-Sanktionen gegen sein Land.

Russische Truppen

Während es derzeit keine zusammenfassenden Angaben über die Situation der ukrainischen Truppen gibt, lässt sich über die Angreifer immerhin so viel sagen: Laut Pentagon operieren 106 russische Bataillonsgruppen (BTG) in der Ukraine. Seit Wochenbeginn (damals waren es 105) sei eine zusätzliche Gruppe in den Donbass verlegt worden. BTGs sind normalerweise Einheiten mit je 800 bis 1000 Mann – es ist aber unklar, in welchem Zustand sie sind. Teilweise wurden diese Kampfgruppen offenbar aus Resten anderer Einheiten neu zusammengestellt. Auch wenn derzeit die heftigen Kämpfe im Donbass stattfinden, beobachten die USA die größte Truppenkonzentration mit 50 Einheiten im Süden zwischen Mariupol und Cherson.

Nach wie vor hat Russland laut ISW große Schwierigkeiten, genug Ersatzkräfte zu gewinnen, um die Verluste auszugleichen. Das britische Verteidigungsministerium geht anhand offizieller russischer Angaben über die spezielle Bewaffnung (sogenannte Terminator-Panzerfahrzeuge) davon aus, dass Russland bei Sjewjerodonezk auch Truppen einsetzt, die zuvor schwere Verluste in der Schlacht um Kiew erlitten hattn.

Aus Russland selbst werden Anschläge mit Molotowcocktails auf Militärkommissariate gemeldet, die für das Einziehen von Soldaten zuständig sind. Solche Attacken gab es im Raum Moskau (dreimal), in Omsk und Wolgograd, im Bezrik Rjasan 200 Kilometer südlich von Moskau und im Autonomiegebiet der Chanten und Mansen im Ural. Bei Moskau nahmen die russischen Behörden zwei 16-Jährige fest – der Widerstand kommt also offenbar tatsächlich aus dem eigenen Staatsvolk.