12 Wochen nach KriegsbeginnSo steht es um den ukrainischen Abwehrkampf gegen Russland
Ukrainische Artillerie, die nahe dem Ort Bilohoriwka eine Pontonbrücke über den Siwerskyj Donez zerstört und Dutzende russische Militärfahrzeuge zur Explosion bringt, ein Luftschlag gegen die russische Kriegsmarine vor der Schlangeninsel oder die Vernichtung eines russischen Kommandozentrums in Isjum: Die ukrainische Armee hantiert großzügig mit Videomaterial, auf dem sie Husarenstücke dokumentiert. Aber wie steht es wirklich im Ukraine-Krieg?
Charkiw
Die Ukraine habe die Schlacht um Charkiw offenbar gewonnen – so fasste das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) bereits am Freitag die Lage um die zweitgrößte ukrainische Stadt mit zu Friedenszeiten 1,4 Millionen Einwohnern zusammen: „Ukrainische Kräfte haben die russischen Truppen daran gehindert, die Stadt einzukesseln oder gar einzunehmen, und vertrieben sie dann aus der Umgebung – so wie sie es taten, als die russischen Einheiten Kiew einzunehmen versuchten.“ Die russischen Truppen sind bei Charkiw auf dem Rückzug.
Donbass
Die russische Niederlage bei Charkiw hat auch Einfluss auf die schweren Kämpfe im Gebiet der ukrainischen Oblaste (Bezirke) Donezk und Luhansk. Russland verlegt Truppen nach Isjum, an den nordwestlichen Rand des Kampfgebiets. Charkiw selbst liegt nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, die ukrainischen Truppen stehen an oder dicht vor der Grenze des russischen Bezirks Belgorod, der Russland als Sammelstelle für die Truppen in der Donbass-Offensive dient. Allerdings hat Russland bisher nur vereinzelt von ukrainischen Angriffen dort berichtet, und die Ukraine bestätigt sie nicht. Sie könnte aber versuchen, noch offene russische Nachschublinien zu unterbrechen.
Die Frontlinie im Donbass verläuft wie ein Hufeisen. Im Norden, Osten und Süden stehen russische Truppen den ukrainischen Joint Forces Operation (JFO) mit 40000 bis 50000 Mann gegenüber. Anfangs planten die Russen offenbar eine große Zangenbewegung, um die JOF einzuschließen. Der renommierte ukrainische Militärjournalist Ilja Ponomarenko sprach sogar von einer Neuauflage der Schlacht am Kursker Bogen, einer der größten Panzerschlachten im Zweiten Weltkrieg: nur halt spiegelverkehrt (Angriffsrichtung nach Westen) und mit der russischen Armee in der Rolle der damals, 1943, angreifenden Wehrmacht.
Elektronikbauteile und Munition
Das britische Forschungsinstitut Rusi hatte kürzlich darauf hingewiesen, dass russische Präzisionswaffen und Funksysteme nicht ohne aus dem Westen importierte Elektronikbauteile auskommen. Im Internet kursieren gar Darstellungen, Russland würde seine Militärfahrzeuge mit Chips aus Haushaltsgeräten wieder ans Laufen bringen, und das Panzerwerk Uralwagonzavod habe seine Produktion eingestellt. Für den in der Schweiz lehrenden Militärökonomen Marcus Matthias Keupp ist dies aber nicht das entscheidende Kriterium, sondern die Produktionsfähigkeit der russischen Rüstungsindustrie: „Erst wenn die Truppen sozusagen ,ausgeschossen’ sind und Nachschub brauchen, stellt sich diese Versorgungsfrage, und erst dann wird Russland ,hart getestet’, ob es den Krieg auf Dauer fortführen kann.“
Die westlichen Sanktionen träfen schon jetzt den russischen Waffenexport, in der Ukraine würden aber in der Regel „einfache mechanische Landsysteme“ eingesetzt, so Keupp. Uralwangonzavod habe tatsächlich Kurzarbeit verhängt – aber weil Metallteile für den Bau von Eisenbahnwaggons fehlten. Das sei nämlich, wie der Firmenname schon sage, das Hauptgeschäft. (rn)
Diese großen Pläne hat Russland nach übereinstimmender Analyse des ISW und des britischen Verteidigungsministeriums aufgegeben. Stattdessen unternimmt man kleinere Umfassungsoperationen. So versuchen russische Truppen die 100 000-Einwohner-Stadt Sjewjerodonezk, Verwaltungssitz des Oblasts Luhansk, sowie die Nachbarstadt Lyssytschansk am Siwerskyj Donez einzukreisen – bisher ohne Erfolg.
Offenbar hat der ukrainische Angriff bei Bilohoriwka am vergangenen Dienstag den russischen Vorstoß massiv gebremst. Selbst das Pentagon hob die Leistung der ukrainischen Artillerie hervor – und der ukrainische Generalstabschef Valerij Zaluschny bedankte sich hernach bei den Amerikanern für die Lieferung von Haubitzen. Die Ukrainer hatten 550 russische Soldaten der 74. motorisierten Schützenbrigade in eine Falle gelockt: Sie ließen sie den Flussübergang starten und schlugen dann zu. Rund 80 Panzer und andere Fahrzeuge dürften zerstört worden sein, schätzungsweise 485 Russen wurden laut ISW getötet oder verwundet.
Das ISW erwartet nicht, dass sich der Frontverlauf im Donbass in den nächsten 30 Tagen entscheidend ändert. Die Russen kommen kaum voran. Die Ukrainer würden, so die exilrussische Onlineplattform Meduza, bei Gegenoffensiven auf das gleiche Hindernis stoßen, an dem Russland bei Bilohoriwka so katastrophal gescheitert ist: den Swerskyj Donez, der sich durch das Gebiet windet.
Der Süden
Entlang der ukrainischen Schwarzmeerküste sind die Russen schon zu Beginn der Offensive bis in die Großstadt Cherson und ihr Umland vorgedrungen. Große Bewegung gab es hier in den letzten Tagen nicht. Auch ukrainische Gegenoffensiven im Raum Cherson sind offenbar nicht weiter vorgedrungen.
Umso mehr wird befürchtet, dass Russland versucht, seine Eroberungen durch förmliche Annexion zu sichern. Zunächst gab es Berichte, Russland wolle in Cherson am 11. September ein manipuliertes Referendum abhalten, dann erklärte die russische Militärverwaltung in Cherson, man könne der Russischen Föderation auch ohne Abstimmung beitreten. So oder so würde eine Annexion eine weitere Eskalation bedeuten, wie das ISW betont: Denn von diesem Moment an könnte Russland eine ukrainische Gegenoffensive als Angriff auf eigenes Territorium betrachten – und nach seiner eigenen Militärdoktrin sogar mit Atomwaffen drohen.
Als mittelfristiges russisches Kriegsziel gilt die Eroberung der ganzen ukrainischen Schwarzmeerküste. Die Ukraine wäre damit komplett von der See abgetrennt, hätte ihren wichtigsten Hafen Odessa verloren – und Russland würde eine Landbrücke zur von Moldawien abgespaltenen Rebellenrepublik Transnistrien kontrollieren.
Landkarten mit dem Frontverlauf sollten nicht über ein Faktum hinwegtäuschen: Es ist nicht gesagt, dass Russland die Gebiete hinter der Front wirklich beherrscht. Im Gegenteil: Bei Cherson, im Hinterland des Asowschen Meers auf der Höhe von Melitopol und weiterhin im Stahlwerk von Mariupol gibt es ukrainischen Widerstand.
Einen schweren Rückschlag hat Russland durch die Versenkung des Kreuzers „Moskwa“ am 14. April erlitten. Dieser 187 Meter lange Gigant hatte eine zentrale Funktion für die Aufklärung und die Luftabwehr der russischen Schwarzmeerflotte. Da ihr Schutz fehlt, bewegen sich die verbliebenen russischen Kriegsschiffe meist nahe der Krim. Das reicht noch für Raketenangriffe, aber nicht etwa für eine Landeoperation in Odessa.
Schlangeninsel
Umso heftiger toben die Kämpfe um die Schlangeninsel, einen Felsen, der an der Grenze ukrainischer und rumänischer Hoheitsgewässer vor dem Donaudelta liegt. Das Gelände ist so groß wie 22 Fußballfelder. Satellitenfotos zeigen schwere Zerstörungen – dennoch halten sich hier russische Soldaten und versuchen, Luftabwehrsysteme auszubauen. Würde Russland es schaffen, seine Position auf der Insel zu sichern und zudem Marschflugkörper zu stationieren, könnte es den Nordwesten des Schwarzen Meeres beherrschen, so das britische Verteidigungsministerium.
Tragische Ironie: Die Schlangeninsel war lange zwischen der Ukraine und Rumänien umstritten, 2009 sprach der Internationale Gerichtshof sie Kiew zu. Wäre die Insel heute rumänisch, dann wäre sie wohl ein Nato-Stützpunkt – und Odessa wäre deutlich sicherer.
Verluste
Nach einer Übersicht des Kieler Instituts für Sicherheitspolitik hat Russland bisher 190000 Soldaten im Ukraine-Krieg eingesetzt, dazu kommen etwa 30000 prorussische Rebellen und etliche Söldner. Die Ukraine hatte etwa 200000 Soldaten zur Verfügung. Beide Seiten machen normalerweise keine Angaben über Verluste. Im April sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von 3000 getöteten ukrainischen Soldaten – mit Sicherheit schon damals eine untertriebene Zahl.
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Russland hat bisher 1300 Gefallene eingeräumt. Tatsächlich geht das britische Verteidigungsministerium mittlerweile davon aus, dass ein Drittel der russischen Truppen nicht mehr einsatzfähig ist. Allein 25000 russische Soldaten seien gefallen, meinte der Militärforscher Justin Bronk vom Royal United Service Institute vorige Woche. Bei diesen Verlusten komme das russische Heer „an seine Grenzen“, was offensive Operationen anbetreffe, denn von insgesamt 168 Kampfgruppen (Bataillon Tactical Group), die es aufstellen könne, seien 130 im Ukraine-Einsatz.
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Nach Zählung des unabhängigen Rüstungsblogs Oryx hat Russland bisher nachweislich unter anderem 671 Panzer im Ukraine-Krieg verloren, allerdings 82 ukrainische Panzer erbeutet; die Ukraine büßte 163 Panzer ein, konnte aber 239 russische Panzer erobern. Die tatsächlichen Verlustzahlen dürften höher liegen. Insgesamt verfügte Russland zu Kriegsbeginn westlich der Wolga – also schnell verlegbar – über 2800 Panzer, so der in Zürich lehrende Militärökonom Marcus Matthias Keupp. Dazu soll noch eine Reserve von 12000 bis 15000 Panzern kommen, „deren Einsatzfähigkeit und lokale Stationierung unbekannt ist“.