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Angst am BaltikumIst das Baltikum die nächste Adresse der russischen Aggression?

Lesezeit 4 Minuten
Lastwagen Estland

Estland, Tapa: Militärlastwagen transportieren Panzer als Teil zusätzlicher britischer Truppen und Militärausrüstung bei ihrer Ankunft auf dem Nato-Stützpunkt. 

Berlin – Ist das Baltikum die nächste Adresse der russischen Aggression? Die Länder an der Ostsee treffen bereits Vorbereitungen. In Litauen, eigentlich geografisch eher weiter weg von der Ukraine, hat Staatspräsident Gitanas Nauseda den Antrag des Parlaments auf Ausrufen des Ausnahmezustands unterzeichnet. „Sollte Russland die brutale groß angelegte Aggression nicht stoppen“, so das Staatsoberhaupt, werde Litauen der Ukraine „jegliche erdenkliche Hilfe zukommen lassen.“

Litauen will zudem die Aktivierung des Artikels 4 der Nato beantragen. Mitgliedsstaaten können dies nutzen, wenn sie sich von einem anderen Staat bedroht fühlen. Litauen rechnet vor allem mit einem Cyberangriff von Seiten Russlands, wie Premierministerin Ingrida Simonitis erklärt. Litauen gilt als das Kreml-kritischste Land in der EU. Nach der Annexion der Krim 2014 mussten dort die Schulkinder zu Luftschutzübungen, zudem führte die Regierung die Wehrpflicht wieder ein.

Bedauern über Nationalismus

Auch der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins verlangt nach Artikel 4 des nordatlantischen Mitgliedsvertrags, Alar Karis, Estlands Präsident ruft nach mehr Verstärkung in Form von Land- und Luftstreitkräften an der „Ostflanke der NATO“ – sprich unter anderem in Estland.

In Wladimir Putins Reden vom Montag und Donnerstag, die den Einmarsch in die Ukraine einleiteten, wird keine Drohung gegen Litauen, Lettland und Estland direkt geäußert. Wohl aber ein Bedauern, dass der aufkommende Nationalismus einzelner Völker und Gorbatschows Zugeständnis der Sowjetrepubliken 1989 zu mehr Autonomie Schuld am Untergang der Sowjetunion hatten. Zudem kündigte Putin eine Nulltoleranzpolitik gegenüber den Aktivitäten der NATO an den Grenzen Russlands an – dies betrifft auch die baltischen Staaten, sowohl Mitglieder des westlichen Verteidigungsbündnisses wie der EU. Zwar will Putin den ehemaligen Sowjetrepubliken ihre Staatsrechte nicht absprechen, als Beispiel wählte er jedoch Kasachstan, ein Land eng verflochten mit Mütterchen Russland.

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Hat nun Russland einen historischen Anspruch auf die baltischen Länder, sowie auf die Ukraine, die er als Kreation des Kommunismus abtut? Fest steht – Lettland und Estland gab es vor 1918 als Staaten nicht. Die Gebiete des nördlichen Baltikums waren seit dem 13. Jahrhundert permanent von Schweden und dem Großfürstentum Nowgorod, später vom russischen Zarenreich umkämpft. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts zeichnete sich eine russische Überlegenheit ab. Litauen bildete in Personalunion im späten Mittelalter eine Großmacht, die Russland mehrfach bedrohte. Im Rahmen der drei „polnischen Teilungen“ verschwand auch Litauen 1795 von der politischen Karte und wurde nach Ende des Ersten Weltkrieges neu gegründet. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 besetzte die Sowjetunion die drei Staaten.

Schwieriges Erbe für russische Minderheiten

Die Sowjetunion hinterließ den baltischen Ländern ein schwieriges Erbe – russischsprachige Minderheiten, die nun aufgefordert worden, ein neues Idiom zu lernen, oder als staatenlose Fremde mit limitierten Rechten in einem neuen Land zu leben. In Lettland und Estland wird die russischsprachige Minderheit auf 25 bis 30 Prozent geschätzt, in Litauen sind es gerade mal 5 Prozent.

Chancen durch Digitalisierung

Estland kann als großer Gewinner unter den ehemaligen Sowjetrepubliken angesehen werden. Hier erfanden ein paar junge IT-Cracks „Skype“ und verkauften es an Microsoft, hier ist die Digitalisierung fortgeschritten wie in keinem Lande Europas, aber auch in den beiden andern Ländern entwickeln sich viele erfolgversprechende Startups – Taiwan etwa will mittels Technologie-Transfer aus Litauen ein Halbleiter-Labor Europas machen. Allein diese Erfolge müssen für den Sowjet-Nostalgiker Wladimir Putin eine Provokation sein, von der Stationierung der Nato-Truppen mal ganz abgesehen.

Die Zeit der großen Spannungen dieser Minderheiten mit den baltischen Mehrheiten, angeheizt durch das russische Staatsfernsehen ist jedoch vorbei. So verurteilte der bekannteste russischstämmige Politiker Lettlands, Nils Usakovs, den Angriff auf die Ukraine als „verbrecherisch, die Weltgemeinschaft müsse sich nun gegen den Kreml vereinen. Von 2009 bis zum Jahr 2019 regierte der heutige Europaparlamentarier die Stadt Riga, dabei wurde ihm mitunter das häufige Reisen nach Moskau vorgeworfen. Die Kremlkontakte bedeuten jedoch nicht, dass jener wirklich eine Zukunft in einem russisch kontrollierten Baltikum sieht.