Angriff auf das GrundgesetzDiese Bewährungsproben musste die Verfassung bestehen
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Bonn, 11. Mai 1968. In drei Kolonnen marschieren 50 000 Demonstranten auf die Bonner City zu. Ihr Ziel: die Hofgartenwiese. Die Teilnehmer des Zuges kommen aus ganz Deutschland. Die Polizei verweigert einigen Holländern und Dänen, die sich dem Protest anschließen wollen, an den Grenzen die Einreise. Begründung des NRW-Innenministers Willi Weyer (FDP): Die Behörden hielten es nicht für nötig, dass sich Ausländer in deutsche Belange einmischen. Diejenigen, die demonstrieren dürfen, rufen Slogans wie "SPD und CDU, lasst das Grundgesetz in Ruh" oder "Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Notstand selber!"
Denn um nicht weniger geht es: Um das Grundgesetz, das die Demonstranten in Gefahr sehen. Durch die Notstandsgesetze, um die die Große Koalition von Union und SPD die nicht einmal 20 Jahre zuvor in Kraft getretene Verfassung der Bundesrepublik ergänzen wollen. Ein breites, aber fragiles politisches Bündnis macht dagegen mobil: Die FDP als einzige Oppositionspartei, Gewerkschaften und besonders die Studentenbewegung wenden sich gegen die Pläne, die sie im Bundestag angesichts der Stimmenmehrheit der damaligen GroKo nicht verhindern können.
Die Gegner der Notstandsgesetzgebung sehen darin eine Gefahr für die Grundrechte. Denn die Neuregelung sieht für den Kriegsfall oder bei inneren Unruhen weitgehende Befugnisse für die Behörden vor und sogar den Einsatz der Bundeswehr zur Bekämpfung von Aufständen. Ein "Gemeinsamer Ausschuss" von Bundestag und Bundesrat soll im Krisenfall die Gesetzgebungskompetenz übernehmen.
Die Demonstranten fürchten die Möglichkeit einer kalten Machtübernahme durch die Regierung, sie fühlen sich an die Notverordnungen der Weimarer Republik erinnert und an die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Absichtsvoll wird das Gesetzespaket als "NS-Gesetz" bezeichnet. Unter den Gegnern befindet sich zum Beispiel Ingrid Matthäus-Maier: "Die Notstandsgesetze waren damals auch der Grund, warum ich in die Parteipolitik eingestiegen bin. Wir schickten damals Petitionen gegen die Gesetze in den Bundestag, und die kümmerten sich gar nicht darum."
Von einer "exaltierten Diskussion" spricht heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, der Bonner Politologe Hanns Jürgen Küsters. "Die Gegner der Gesetze unterstellten der Regierung unlautere Absichten; dabei ging es vor allem darum, die Grundordnung der Bundesrepublik im Krisenfall abzusichern." Doch weil es um das Grundgesetz geht, sehen die Gegner der Großen Koalition von FDP bis zu den linken Studenten eine Chance zur Mobilmachung breiterer Teile der Bevölkerung.
Die Deutschen (West) haben in nicht einmal zwei Jahrzehnten ihr Grundgesetz schätzen gelernt - "die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland je gehabt hatte", wie der Historiker Eckart Conze schreibt. Ein Angriff auf ihre Rechte, so die Kalkulation von inner- und außerparlamentarischer Opposition, würde die Bürger auf die Barrikaden treiben. Eine Fehleinschätzung. Nicht einmal drei Wochen nach dem Sternmarsch auf Bonn verabschiedet der Bundestag die Notstandsgesetzgebung. Ironie der Geschichte: Angewendet wurden sie bis heute nicht.
Der politische Kampf um die Notstandsgesetze zeigte auch: Beim Grundgesetz schaut die Öffentlichkeit genau hin; ein leichtfertiger oder allzu robuster Umgang mit den Grundrechten der Bürger kann auch für die prominentesten Politiker zum Bumerang werden. Diese Erfahrung machten zwei Männer, die der jungen Republik ihren Stempel aufdrückten: Franz Josef Strauß und Konrad Adenauer.
Der Gründungskanzler der Bundesrepublik nimmt Ende der 1950er Jahre die regionalen TV- und Radiosender ins Visier, die sich 1954 zur "Arbeitsgemeinschaft der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten" (ARD) zusammengeschlossen hatten. Die Überzeugung, die der "Alte" im Bundestagswahlkampf 1957 gewonnen hatte: Die ARD-Sender sind gegen ihn. Besonders der "rote Nordwestdeutsche Rundfunk NWDR war Adenauer ein Dorn im Auge", schreibt Historiker Conze. Obwohl er gerade die absolute Mehrheit geholt hat, macht sich Adenauer Sorgen. Radio und Fernsehen werden für die politische Meinungsbildung immer wichtiger.
Der Kanzler ist überzeugt, dass er eine Informationsquelle schaffen muss, die von der Regierung kontrolliert wird. Das Kanzleramt entwickelt den Plan eines zweiten nationalen TV-Programms unter staatlicher Leitung. Das Problem: Die im Grundgesetz vorgesehene bundesstaatliche Ordnung weist die Regelungskompetenz für Funk und Fernsehen den Bundesländern zu. Übrigens auf Initiative von Adenauer selbst, der vor den ersten Bundestagswahlen einer konservativen Mehrheit nicht sicher war und wenigstens in den unionsregierten Ländern Einfluss auf Radio und TV behalten wollte.
Für die Finanzierung holt der Bundeskanzler wohlgesonnene Wirtschaftsverbände und Unternehmen ins Boot. Den Ministerpräsidenten der Bundesländer, deren Widerstand gegen seine Pläne er erwartet, wirft der Regierungschef einen Köder vor die Füße: Sie sollen sich an der Freies Fernsehen GmbH (FFG) beteiligen - allerdings nur mit 49 Prozent. Rechtlich argumentiert der Kanzler, dass für die Rundfunksender schließlich die Bundespost zuständig sei, und damit der Bund; daher könne die Bundesregierung auch über die Fernsehanstalten befinden.
Aber selbst unionsregierte Länder wollen beim Staatsfunk nicht mitmachen - worauf kurzerhand Justizminister Fritz Schäffer (CSU) den für sie vorgesehenen Anteil übernimmt, treuhänderisch. Gustav Heinemann, später Justizminister und Bundespräsident, spricht später von einem "Staatsfunk, schlimmer als wir ihn im »Dritten Reich« hatten". Der Sender sei als "ein totales Instrument in der Hand des Kanzlers" geplant gewesen. Der Konjunktiv signalisiert: Mit seinem Projekt eines Schwarzfunks unter Regierungskontrolle fährt Adenauer gegen die Wand. Die SPD-Länder Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachsen klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Mit ihrem ersten Rundfunkurteil vom 28. Februar 1961 verbieten die Richter dem Bund, selbst einen Fernsehsender zu betreiben. "Dieses moderne Instrument der Meinungsbildung" dürfe "weder dem Staate noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert" werden, entscheiden die Verfassungswächter. Sie bereiten dem alternden Kanzler, dessen Stern ohnehin im Sinken begriffen ist, eine empfindliche Niederlage, stellen jedoch für die institutionelle Ordnung des jungen Staates einen Meilenstein auf.
Selbst für eine Regierung mit absoluter Mehrheit im Bundestag sei es nicht ohne weiteres möglich, Maßnahmen zu ergreifen, die die "institutionelle Balance zu gefährden drohten", wie Historiker Conze urteilt. Als zweite Rundfunkanstalt in Westdeutschland wird wenig später das ZDF gegründet - von den Bundesländern.Nur anderthalb Jahre später muss die Grundordnung der Bundesrepublik eine ungleich schwerere Bewährungsprobe bestehen. Der Spiegel hatte in seiner Ausgabe vom 10. Oktober 1962 in einem 20 Seiten langen Artikel (Titel: "Bedingt abwehrbereit") über das Nato-Manöver "Fallex 62" detailliert berichtet und so alarmierende Mängel bei der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr offengelegt. Der Minister, der für die Mängel verantwortlich war, schäumt vor Wut: Franz Josef Strauß.
Der ehrgeizige CSU-Mann lässt unter dem Vorwurf des Landesverrats die Redaktion des Hamburger Nachrichtenmagazins besetzen und Mitarbeiter festnehmen. Sogar in Spanien macht Strauß seinen Einfluss geltend: Conrad Ahlers, Autor von "Bedingt abwehrbereit", wird mit seiner Frau an seinem Urlaubsort verhaftet. Beamte führen auch Spiegel- Chef Rudolf Augstein ab, erst nach 103 Hafttagen kommt er frei. Kanzler Adenauer wettert im Bundestag über einen "Abgrund an Landesverrat".
"Die Pressefreiheit in der Bundesrepublik wurde zum ersten Mal massiv angegriffen", sagt der Bonner Politologe Küsters. Doch Deutschland ist nicht mehr der obrigkeitshörige Staat, in dem die Regierten kuschen und die Regierenden nach Gutdünken herrschen. Die FDP-Minister in Adenauers Kabinett rebellieren gegen die Nacht-und-Nebel-Polizeiaktion von Strauß hinter dem Rücken des liberalen Justizministers Wolfgang Stammberger.
Führende Intellektuelle wie der Bonner Historiker Karl Dietrich Bracher bezogen deutlich Stellung - für den Spiegel und die Pressefreiheit. Das Parlament nutzt seine Rechte, Minister Strauß muss Lügen zugeben. Die Bürgergesellschaft unterstützt den Spiegel, die öffentliche Meinung wendet sich gegen die Bundesregierung. Nur der Rücktritt des Verteidigungsministers verhindert, dass Adenauer stürzt.
Die Spiegel-Affäre zeigt dem Staat seine Grenzen auf: Auch er muss sich an die Gesetze halten, eine mittlerweile kritische Öffentlichkeit beobachtet sein Handeln mit Argusaugen. Ein Regierungsamt bedeutet keinen Freibrief für Willkür, auch Minister müssen ihr Handeln rechtfertigen. In der Spiegel-Krise wird deutlich, "dass sich die Bundesrepublik zu einem liberalen Gemeinwesen entwickelt hatte, in welchem das Verhalten der Regierung nicht länger obrigkeitsorientiert akzeptiert, sondern scharf und deutlich kritisiert wurde, wenn es nötig war", urteilt Chronist Conze. Die Demokratie der Bundesrepublik habe durch die Affäre "einen kräftigen Liberalisierungsschub" erhalten. "Die lange gehegten Traditionen obrigkeitsstaatlichen Denkens waren nicht mehr allgemein akzeptiert", so Conze.
Spiegel-Affäre, Adenauer-Fernsehen, Notstandsgesetzgebung: Wirklichkeitstest für die Verfassung. Für den Politikwissenschaftler Küsters ist das "Austesten der Grenzen der Verfassung ein natürlicher, ein demokratischer Prozess". Die deutsche Gesellschaft sei durch die Krisen gereift, habe Vertrauen in das Grundgesetz gefasst, eine politische Kultur entwickelt. "Das institutionelle Gefüge, das im Grundgesetz festgelegt ist, hat sich bewährt", so Küsters.