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Nach tödlichen Schüssen in DortmundMuss die Ermittlungspraxis auf den Prüfstand?

Lesezeit 4 Minuten
Demo in Dortmund (1)

Demonstranten fordern nach den tödlichen Schüssen auf den 16-Jährigen Reformen.

  1. Nach den tödlichen Schüssen auf einen Jugendlichen in Dortmund hat sich in NRW eine breite Debatte über den Einsatz entwickelt.
  2. Erste Auswirkungen zeigen sich bereits, so soll die Ermittlungspraxis auf den Prüfstand.
  3. Über allem schwebt die Frage: Lief bei dem Einsatz alles korrekt?

Düsseldorf – „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) über die Ermittlungen zu den tödlichen Polizeischüssen in Dortmund. Zwischenergebnisse sollen auch deshalb nicht an die Öffentlichkeit gelangen, weil dadurch Zeugenvernehmungen beeinflusst werden könnten. Die Kehrseite: Die dringendsten Fragen zum Tod eines 16-jährigen Senegalesen, der offenbar Suizidabsichten hatte und Polizisten mit einem Messer bedrohte, sind zweieinhalb Wochen nach dem Geschehen noch unbeantwortet.

Warum Schüsse aus einer Maschinenpistole?

Die „MP5“ gehört laut Reul zur Standardausrüstung der NRW-Polizei. Für ihre Nutzung gelten die gleichen Vorschriften wie für Pistolen. Gerade bei mittlerer und größerer Distanz sei die MP treffsicherer als die Pistole. Das Ungewöhnliche: Der Schütze, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge läuft, hat sechs Schüsse auf den 16-Jährigen abgegeben, von denen fünf trafen. Waren es einzelne Schüsse? Dann stellt sich die Frage, warum so oft geschossen wurde. War es ein Feuerstoß? Das so genannte „Dauerfeuer“ ist im Einsatz grundsätzlich verboten und kaum aus Versehen auszulösen. Laut Experten braucht der Schütze zum Umstellen beide Hände. „Wer auf Dauerfeuer stellt, muss es ganz bewusst machen“, sagte der Inspekteur der Polizei, Michael Schemke, im Landtag. Auch nicht auszuschließen: Ein Defekt an der Waffe.

Warum waren die Bodycams aus?

Elf Polizeibeamte waren in Dortmund im Einsatz. Sie verfügten zwar über Körperkameras (Bodycams), schalteten diese aber nicht ein. Warum, ist bislang noch nicht geklärt. Innenminister Reul beantwortet diese Frage nicht, deutet aber an, dass es für den Verzicht auf Aufnahmen einen „nachvollziehbaren Grund“ geben könnte: Das Filmen eines Suizidgefährdeten verletze einen sehr privaten Lebensbereich.

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Die Bodycam soll nach aktueller Lesart deeskalierend wirken. Über die Möglichkeit, damit auch polizeiliches Handeln zu dokumentieren, ist in NRW noch nicht politisch diskutiert worden. Laut der Grünen-Landtagsfraktionschefin Verena Schäffer würde diese Nutzung der Körperkameras Datenschutz-Probleme nach sich ziehen: Würden Polizisten ihre Einsätze grundsätzlich filmen (müssen), wären Einblicke ins Private, zum Beispiel in Wohnungen, alltäglich. Andererseits wäre es so leichter zu überprüfen, ob sich Beamte korrekt verhalten. Die Polizei in NRW muss übrigens wegen Akkuproblemen derzeit auf ein Drittel ihrer rund 9000 Bodycams verzichten.

Warum wirkte der Taser nicht?

Distanz-Elektroimpulsgeräte (Taser) werden in NRW in fünf großen Polizeibehörden als Teil der Grundausstattung genutzt, darunter Dortmund. Mit dem Gerät werden zwei kleine Pfeile an Drähten verschossen, die sich in Haut oder Kleidung verhaken. Bei einem Treffer fließt Strom, Muskeln kontrahieren kurzzeitig, und der Getroffene stürzt. In Dortmund funktionierte dies nicht. Vor den tödlichen Schüssen wurde zwar mindestens ein Taser genutzt, es floss nach Zeugenangaben auch Strom, wie Innenminister Reul im Landtag erklärte, aber die erhoffte Wirkung setzte offenbar nicht ein. Laut Koalitionsvertrag möchten CDU und Grüne, dass Taser und Bodycam künftig gekoppelt werden. Technisch scheint dies möglich zu sein, laut Reul müssen zu dieser „klugen Lösung“ aber noch rechtliche Fragen geklärt werden.

Warum kontrollieren Polizisten Polizisten?

Die polizeilichen Ermittlungen im Fall Dortmund übernehmen Beamte aus Recklinghausen. Dortmunder ermitteln gleichzeitig zu einem Polizeieinsatz in Recklinghausen. Die Polizei in Dortmund ist bei internen Ermittlungen übrigens stets für Recklinghausen zuständig und umgekehrt. Aber lässt ein so starres Verfahren neutrale Untersuchungen zu? Verhindert der „Corpsgeist“ eine ehrliche Aufarbeitung? Viele Migranten-Organisationen und auch einige Forscher kritisieren diese Praxis scharf. Innenminister Reul hat zwar „keine Zweifel“ an der Neutralität der Ermittlungen. Er erinnert daran, dass eine Staatsanwaltschaft Herrin des Verfahrens ist und auch das Landeskriminalamt „ein Auge auf die Ermittlungen“ werfe. Dennoch steht das Kontrollsystem jetzt auf dem Prüfstand. Sollten sich im Laufe der Ermittlungen zu Dortmund Zweifel an der Neutralität der Polizei ergeben, müsse man offen sein für die Frage, ob man es besser machen könne, so Reul.

Welche Fragen sind sonst offen?

Unter anderem, ob die Polizei ausreichend auf solche Einsätze vorbereitet ist. Außerdem: Wäre es möglich gewesen eine Spezialeinheit – die gibt es in Dortmund – einzusetzen? Und: Lässt sich das Hinzuziehen von Psychologen und Dolmetschern in solchen Krisensituationen erleichtern?