Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Ukrainischer Autor in Köln„Ohne Kampf und Sieg kein Frieden“

Lesezeit 3 Minuten
Andruchowytsch

Jury Andruchowytsch

Köln – Stundenlang könnte man über „Radio Nacht“ sprechen, diesen Roman ohne Tempolimit und Wahrscheinlichkeitsfesseln. Was für ein Held! Josip Rotsky war erfolgloser Rockmusiker in seiner osteuropäischen Heimat, Pornodarsteller in Amerika, nach seiner Rückkehr Pianist auf den Barrikaden der gescheiterten Revolution, sodann Attentäter, Häftling und Komplize eines Finanzjongleurs.

Nun schickt der „ewige Flüchtling“ von einer Insel bei Grönland seine dunklen Nachtgedanken, garniert mit passender Musik (siehe Info) in den Äther. All dies in einem Buch, das lodert und fantasievoll funkelt, bei der Literaturhaus-Veranstaltung im Kölnischen Kunstverein aber Konkurrenz von der Realität bekommt. Der glänzend deutsch sprechende Autor Juri Andruchowytsch nämlich ist Ukrainer.

Neuer Roman in Arbeit

Die russische Attacke hat er vorausgeahnt, „trotzdem war der 24. Februar ein Schock. denn die Raketen haben auch den Flughafen meiner Stadt Iwano-Frankiwsk (das alte galizische Stanislau im eher sicheren Westen der Ukraine) zerstört. Der neue Blick aus dem Fenster fällt auf schwarzen Rauch.“

Ob er unter solchen Umständen überhaupt schreiben könne, will der exzellente Moderator Uli Hufen wissen. Anfangs kaum, gesteht der 62-Jährige, zu viele Medienanfragen aus aller Welt, die er nur mit einem komplexen Stundenplan erfüllen konnte.

Playlist zum Buch

„Rotsky’s List“ bündelt auf youtube (fast vollständig) jene Musiktitel, die der Moderator in „Radio Nacht“ spielt. Die Palette reicht von Tom Waits („Poor Edward“) über David Bowie („Wild is the River“) bis zum Countertenor Klaus Nomi („The cold song“) und dem ukrainischen Komponisten und Pianisten Lubomyr Melnyk. Vertreten ist auch die polnische Band Karbido, zu der Juri Andruchowytsch gehört und von der er eine CD als „Souvenir“ mit nach Köln brachte. (Wi.)

Kurz vor Kriegsausbruch hatte er das erste Kapitel eines neuen Romans beendet, und eins sei jetzt schon sicher: „Das Buch wird ein anderes werden als geplant.“ Immerhin: „Radio Nacht“ war schon 2020 fertig, taugt also trotz verblüffender Parallelen zur Gegenwart nur bedingt als Schlüsselroman. Zumal Rotskys Aufstand scheitert, während die Maidan-Revolte 2014 das korrupte Regime hinwegfegte. Allerdings, so Andruchowytsch, vergesse der Westen häufig, dass eben schon seit diesem Zeitpunkt Krieg mit Russland herrscht.

„Ich werde Ihre Nacht mit Schlaflosigkeit füllen“, verspricht Rotsky seinen Hörern. Ein Held ganz nach dem Geschmack seines Schöpfers, der selbst in Bands spielte und spielt, 1992 mit seinem Erstling „Karpatenkarneval“ die ukrainische Literatur rockte und sich freut, wenn man „Radio Nacht“ als „akustischen Roman“ einschätzt. Eine virtuose Passage über das Lärm-Inferno des Tinnitus legt dies ohrenbetäubend nahe.

Viele Anlehnungen und Anspielungen

Das Werk strotzt nur so von Anspielungen. So verweist der Name des Protagonisten auf die Dichter Joseph Roth und Joseph Brodsky, während der Rabe Edgar direkt aus Edgar Allan Poes Gedicht auf Rotskys Schulter flattert. Diese tragisch grundierte Burleske passt nicht schlecht zur Stimmung in der Ukraine: „Es gibt viel mehr Musik als vor dem Krieg und mehr schwarzen Humor.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Manchmal nerven den Schriftsteller westliche Zweifel am Sinn der ukrainischen Gegenwehr. Auch ein pazifistisches Land wie Deutschland müsse begreifen, „dass es für uns keinen Frieden ohne Kampf und Sieg geben wird.“ Insofern schätzt er die Zusage des Bundeskanzlers Olaf Scholz, in die Ukraine als künftiges EU-Mitglied zu investieren.

„Radio Nacht“ vereint Trotz, Witz und Traurigkeit, der starke Kölner Abend mischt sehr atmosphärisch Lesung, Interview und Musik. Wenn Sängerin Mariana Sadovska zum Schluss inbrünstig den Abschiedsschmerz der Flüchtlinge beschwört, werden manche Augen im Saal feucht.

Juri Andruchowytsch: Radio Nacht. Roman, deutsch von Sabine Stöhr. Suhrkamp, 469 S., 26 Euro.