Textsammlung „Sprachlaub“Martin Walsers schonungsloses Aus-der-Welt-Gleiten
Köln – Schon Ende 2018 trat Martin Walser zum „Spätdienst“ an, zu einer lyrischen Nachtschicht in Todesnähe. Nun harkt er, der an diesem Mittwoch 94 wird, „Sprachlaub“. Doch es ist eben nicht welk und kraftlos, sondern leuchtet in allerdings düsteren Farben. „Schmerz schürft mich, die Feuerspur ächz ich entlang“, heißt es da. Oder wie Fetzen eines apokalyptischen Albtraums: „Schwarze Zwerge reiten auf roten Pferden durch mich hindurch“.
Diese kurzen Endlichkeits-Stenogramme sind wie Gedichte gesetzt und keineswegs eindeutig. „Du musst den Wörtern kündigen“, ermahnt sich der Schriftsteller, der doch weiß: „Schreiben und Leben fielen bei mir fast von Anfang an zusammen. Ich tanzte, also war ich.“ Und dann straft er die Vergangenheitsform Lügen, wobei er stets dem Motto folgt: „Wahr ist nur, was schön ist.“ Und in diesem Sinn gönnt er selbst der eigenen Hinfälligkeit die strahlendste Sprachkraft.
Gewiss, der Fokus jenes Mannes, der einst in seinen Anselm -Kristlein-Romanen Geistesblitze in die Abgründe der Bundesrepublik schleuderte, ist geschrumpft. Schon im fast schwerelos heiteren Spätwerk hatte sich der Dichter vom Bodensee gewissermaßen neu erfunden und einen sehnsüchtigen Minnesängerton angeschlagen.
Selbstmordvision und Naturglück
Nun allerdings ist die erotische Verheißung, die noch in „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“ auftauchte, vollends verschwunden.
Außer dem schmerzgeplagten Ich des Autors bleibt dieses Buch beinahe menschenleer. „Wenn mir nach Menschheit ist, habe ich Gras, und das Gespräch gewähren mir Katze und Hund.“ Auch die Aquarelle seiner Tochter Alissa Walser erinnern mit ihren transluzenten Endloslinien mal an Pflanzen, mal an Blutbahnen. Mit ihrem delikaten Farbenspiel zwischen Tristesse und Heiterkeit spiegeln sie die emotionale Spannweite der Texte.
Zwischen Selbstmordvisionen und Lebensfreude
Da gibt es einerseits Selbstmordvisionen: „Mit dem Messer die Ader ritzen“, um „das ewige Taumeln“ zu beenden. Dann wieder glänzende Tage, an denen der Greis gar nicht dazu kommt, an seinen Tod zu denken. Wenn ihn etwas tröstet oder gar berauscht, dann die Natur, Fliederdolden im Wind, seidiger Regen, Vogelgezwitscher oder die Düfte von Salbei und Melisse. „Die Sonne scheint in ein Gesumm“, heißt es, wie der Dichter überhaupt Sommerhitze für die Winterstille sammeln will.
Muss man ihm glauben, wenn er bittet: „O lass mich gehen Leben, als wäre ich nie gewesen“? Nicht unbedingt, denn gleichzeitig erstickt er immer noch an den Schönheiten der Welt und fordert das Jahr auf, langsamer zu vergehen: „Langeweile, komm, schütz uns vor den Zähnen der Zeit.“
Zwei Mal verlässt Walser dann doch den Zirkel seiner hellsichtigen Egozentrik. Als er vom Tod des jüngeren Kollegen Rolf Hochhuth erfährt, plagt ihn das Bedauern, nicht vorher mit ihm gesprochen zu haben. Und als sich ein bettelnder „Elendserpresser“ an seiner Tür zeigt, kocht im längsten Text des Bandes eine Philippika hoch, die an den politischen Feuerkopf von früher erinnert. Doch die Verachtung für die „abgewetzten Wörter“ der Medienwelt bleibt hier letztlich folgenlos.
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Auch wenn den Schriftsteller Zweifel an der Dauerhaftigkeit seines Werks beschleichen, so kann er doch nicht anders, als schreibend zu leben. Und sei es als Autor seines eigenen Requiems. Verstummen kommt nicht in Frage, wobei es in der deutschsprachigen Literatur schon seinesgleichen sucht, wie schonungslos und zugleich sprachschön hier jemand sein Aus-der-Welt-Gleiten protokolliert. Ist es also ein trostloses Buch? Nein. Martin Walser bietet dem Unausweichlichen die Stirn, verzweifelt, aber auch abgeklärt. Und der letzte Satz heißt: „Ich wehre mich nicht, ich bin bedacht und will bis zum letzten Abend leben.“ Und schreiben.
Martin Walser: Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist. Aquarelle von Alissa Walser. Rowohlt, 142 S., 28 Euro.