Neues AlbumWie Marius Müller-Westernhagen mit dem heutigen „Zeitgeist“ abrechnet
Berlin – Es war, um es einmal ganz wertfrei zu formulieren, so einiges los in der Welt, seitdem Marius Müller-Westernhagen im fernen Jahr 2014 sein Album „Alphatier“ veröffentlicht hatte. Muss man ja hier nicht nochmal alles aufzählen. Oder, um es in den Worten des Künstlers, geäußert in seinem neuen Lied „Schnee von gestern“ deutlich zugespitzter auszudrücken: „Jedem, dem in diesen Zeiten noch ein Hirn geblieben, kann sich nur besaufen und alle Menschen lieben.“ Hier kapituliert eher der Künstler als der Privatmensch, denn der Alkoholkonsum Westernhagens sei überschaubar. „Ich trinke gerne ein Glas Rotwein, doch ich suche im Alkohol weder den Exzess noch das Vergessen. Ich mag es lieber, die Kontrolle zu behalten.“
Schonungslos mit der Wirklichkeit konfrontiert
Der Musiker, Ende 1948 in Düsseldorf geboren und seit seinem wegweisen Album „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ (1978) sowie zwei Jahre später dem legendären Roadmovie „Theo gegen den Rest der Welt“ einer der erfolgreichsten und prägendsten Rockstars hierzulande wählt lieber den gegenteiligen Weg zur bequemen Realitätsflucht: Schonungslos und bisweilen geradezu radikal konfrontiert Marius sich und seine Hörerinnen und Hörer mit der ungeschminkten Wirklichkeit: der eigenen wie der von uns allen.
„Was ist nur aus der Fähigkeit zur Empathie geworden?“, fragt er fast schon verzweifelt. Die Menschen seien bei der kleinsten Meinungsverschiedenheit sofort auf der Palme, reagierten zumeist hysterisch, permanent bereit, sich selbst über Lappalien aufzuregen. „Zugleich sind wir immer weniger bereit, aufeinander zuzugehen und einander auch mal zu vergeben.“
Abrechnung mit dem heutigen Zeitgeist
Im Stück „Zeitgeist“ greift Westernhagen in herrlich rotzigem Rock’n’Roll-Empörungston all die oberflächlichen Hohlbirnen und der Fake-News-Verbreiter an, die ihm auf den Senkel gehen. Er wolle zwar niemanden persönlich angehen, beteuert der Musiker, doch im Songtext nennt er die Kardashians, im Videoclip tauchen beispielsweise Heidi Klum und Ex-Bundeskanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder auf. Als Künstler, sagt Westernhagen, empfinde er es als seine Pflicht, sich zu politischen und gesellschaftlichen Themen zu äußern. „Wir sind alle in einem System gefangen, in dem Irrelevanz triumphiert. Wir müssen uns den Quellen, die Falschinformationen verbreiten, entschlossen entgegenstellen.“
Marius Müller-Westernhagen gibt von seinem Privatleben nur wenig preis
Müller-Westernhagen, der von sich selbst sagt, er nehme sich heute längst nicht mehr so wichtig wie in den 90ern, als er in Stadien spielte und mitunter etwas abgehoben wirkte, entziehe sich dem Zirkus so gut es geht. Privates bleibe so gut es eben geht privat, in den sozialen Medien glänze er durch Abwesenheit. Außer, es geht wirklich um etwas.
So wie vor einigen Monaten, als Impfgegner und Coronaleugner auf ihren tumben Demos gern sein wohl berühmtestes Lied „Freiheit“ spielten. Westernhagen postete daraufhin auf Instagram ein Foto von sich beim Impfen, dazu nur ein Wort: „Freiheit“. Auch sang er den Klassiker am Brandenburger Tor anlässlich eines Solidaritätskonzerts für die Ukraine.
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Und er weiß nicht nur den Einsatz seiner Freiheitshymne wohl zu dosieren, auch neue Lieder gibt es von ihm nur dann, „wenn ich auch das Gefühl habe, dass ich etwas zu sagen habe“. Der Impuls, wieder zu schreiben und Stellung zu beziehen, kam ihm im Frühjahr 2020, während des Corona-Lockdowns. Westernhagen hielt sich seinerzeit an seinem Zweitwohnsitz im südafrikanischen Kapstadt auf, doch selbst der goldgelbste Traumstrand nützt einem wenig, wenn das Militär an jeder Ecke steht und aufpasst, dass man nicht draußen rumläuft. „Ich will raus hier“, das erste Stück des Albums, greift in bluesrockigem, an Johnny Cash oder The Doors erinnerndem Gewand das damalige Lebensgefühl nachvollziehbar auf. „Ich vermisse New York City, ich vermisse auch Paris, ich vermisse Rome so pretty, gottverdammte Pandemie“, grölt Marius.
Vielfältige Anklänge
Die Platte, im vergangenen Sommer wieder mit dem Produzenten Larry Campbell in New Jersey aufgenommen und von einer Handvoll exquisiter Musiker perfekt veredelt, überzeugt einerseits mit dieser typischen Marius-Räudigkeit, „einer gehörigen Menge an Wut“ sowie musikalischen Anklängen an die Beatles, Bob Dylan oder Randy Newman.
Sie lässt aber auch reichlich Raum für eine gewisse Melancholie. Sowohl dem voranschreitenden Alter als auch den Bedrohungen unserer Zeit mag es geschuldet sein, dass sich Westernhagen in ruhigen Stücken wie „Achterbahngedanken“, „Abschiedsland“ oder dem dramatisch großartigen, „Stairway to Heaven“-artigen „Die Wahrheit“ mit seiner eigenen Endlichkeit befasst. „Ich muss sterben und Steuern zahlen“, so Westernhagen lakonisch. Und wenn es eines Tages wirklich so weit sei, dann wolle er sagen können, dass es in Ordnung war, dieses Leben.