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„König Lear“ spielt in KölnWenn die Verrückten die Blinden führen

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King Lear.

Köln – Kaum eine Familie, die nicht den schönsten oder schlimmsten Knatsch erlebt, wenn es erst ums Erben geht. In „König Lear“, die Mutter aller literarischen Testamentsscharmützel, thematisiert Shakespeare die Unbill, die sich ergeben kann, wird das Fell schon zu Lebzeiten verteilt: Statt die, wie Queen Elizabeth II. sie nannte, „Firma“ in einer Hand zu belassen, treibt der regierungsmüde Regent den Pflock der Zwietracht in den Herzen seiner Töchter noch eine gute Spanne tiefer. Sie sollen ihre Liebe zu ihm in Worte fassen. Cordelia, die sich verweigert, enterbt er – den anderen beiden, Goneril und Regan, macht er fortan das Leben zur Hölle, bis diese den Spieß umdrehen. Am Ende bleiben die geistige Gesundheit Lears und die physische Unversehrtheit seiner Töchter auf der Strecke.

Auf einen Blick

Das Stück: Shakespeare-Drama über Konflikte zwischen Eltern und Kindern.

Die Regie: Rafael Sanchez reduziert das Stück auf sechs Akteure und erzählt eindringlich und ohne große Mätzchen.

Das Ensemble: Das Ensemble um Martin Reinke läuft zu Höchstform auf. (HLL)

Auch Lears Ratgeber Gloster hat Probleme mit seinem Nachwuchs: Der uneheliche Edmund hetzt den Vater gegen seinen Halbbruder Edgar auf – am Ende zahlt der Erzeuger mit seinem Augenlicht.

Wanderung in den Wahnsinn

In einer pechschwarzen Wüstenei (Bühne: Simeon Meier) erzählt Regisseur Rafael Sanchez jetzt das Thronfolgedrama im Depot 1 und bereitet Martin Reinke ein minimalistisches Tableau für seine Abschiedsproduktion am Schauspiel Köln.

Wenig, aber umso stärker akzentuiertes gleißendes Licht erhellt das Dunkel, ein paar Videoprojektionen und animierte Bilder (Design: Nazgol Emami) erweitern das Bühnengeschehen, ohne Überhand zu nehmen und erlauben den näheren Blick auf Gesichter, ohne ins Plakative abzudriften. Dazu spielt Pablo Giw eigens komponierte Musik, die zwischen betörend und verstörend changiert. Ein Klangteppich, der nicht einlullt – eine Untermalung, die man oft nicht wahrnimmt, die dabei aber immer wieder ihren Anspruch als erzählendes Element lautstark geltend macht.

Und Reinke spielt den König nicht, Reinke ist Lear! Der Text scheint nicht von der Feder des Barden zu stammen, sondern eine Improvisation des Mimen, ad hoc, in diesem Augenblick. All die manischen Momente, seine – immer wieder von lichten Phasen unterbrochene – Wanderung in den Wahnsinn stellen sich genauso selbstverständlich dar wie die Tatsache, dass er von 22 Statisten auf einem Podest über die Bühne getragen wird. Erhoben wird, wer erhoben gehört.

Schauspielerische Leistung

Auf ein Podest heben ihn auch seine sechs Mitspielerinnen und Mitspieler, bereiten für ihn einen schauspielerischen Acker, auf dem er reiche Ernte einfahren kann. Dabei schafft das Ensemble das Kunststück, selber zu Höchstformen aufzulaufen. Birgit Walter und Nicola Gründel geben mit großer Lust und vollem Körpereinsatz die konkurrierenden Schwestern, Séan McDonagh verdreht als schmieriger Intrigant beiden den Kopf. Bruno Cathomas wechselt von einem an einer Servilität scheiternden Gloster zu einem Albany, hinter dessen scheinbarer Zustimmung sich ein eiskaltes Nein verbirgt. Und die einmal mehr von unglaublicher Energie geladene Katharina Schmalenberg verkörpert mit Cordelia, Edgar und Lears Narren gleich drei Rollen, denen die Ehrlichkeit zum Verhängnis wird.

Sanchez sorgt mit seinem Gespür für Personenführung dafür, dass unterm Strich die Summe so viel mehr ist, als nur die Addition der einzelnen Komponenten. Das ist so einer dieser Abende, auf die man hofft, jedes Mal, wenn man ein Theater betritt.

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Muss man jetzt Parallelen zum aktuellen Tagesgeschehen ziehen? Der vom Publikum mit großer Heiterkeit quittierte Satz „Das ist der Fluch der Zeit: Verrückte führen Blinde!“ scheint auf so viele der aktuellen Despoten zu passen wie die Faust in die Magengrube. Aber so ist Shakespeare: Vor 600 Jahren brachte er mit leichter Hand auf den Punkt, was das Menschsein von jeher und in alle Ewigkeit ausmacht.

Nach mehr als drei Stunden revanchiert sich das Premierenpublikum mit Jubel für das Ensemble und Standing Ovations für Martin Reinke – der sich in all diesem Ruhme nicht wirklich sonnen will: Den Strauß mit roten Rosen nimmt er dankend an, verschwindet dann aber sehr schnell.