Kölner Lyriker und AutorJürgen Becker feiert seinen 90. Geburtstag
Köln – Jedem jungen Kollegen würde Jürgen Becker raten: „Denk nie an Preise.“ Dabei hat der Schriftsteller, der am 10. Juli 90 Jahre alt wird, seinen Ritterschlag schon 1967 bekommen: den Preis der „Gruppe 47“. Die sah den Autor mit seinem Debütband „Felder“ ganz dicht am avantgardistischen Puls der Zeit.
Tatsächlich verschmilzt das Assoziationsgewitter dieses Köln-Freskos Lyrik und Prosa mit unerhörter Wucht. Geburtshelfer ist dabei die kreativ gärende Domstadt jener Jahre, ein Fluidum, in dem sich Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel, Chargesheimer und Wolf Vostell tummeln.
Als der Autor 1968 erstmals den Kölner Literaturpreis bekommt, stört ihn, dass kurz zuvor eine Aktion der Filminitiative XSCREEN im U-Bahnhof am Neumarkt verboten wird. Es sei „eine Farce, wenn die Stadt Köln mit der einen Hand Kunstpreise verleiht und mit der anderen die Freiheit der Kunst abwürgt“.
Verflogene Momente bannen
New-York-Fotos
1972 war Jürgen Becker auf Einladung des Goethe-Instituts auf einer zweimonatigen Lesereise durch die USA und Kanada, anschließend blieb er noch eine Zeit lang in New York. Dort griff er nicht nur zu Stift und Papier, sondern auch zur Kamera und hielt seine Beobachtungen in Fotos fest.
Durch Zufall entdeckte sein Sohn, der Fotograf Boris Becker, die Aufnahmen auf dem Dachboden des Vaters. Die Veröffentlichung in einem Buch und eine Ausstellung in Braunschweig folgten. Nun sind sie pünktlich zu Jürgen Beckers 90. Geburtstag in Köln zu sehen.
Noch bis zum 16. Juli läuft die Schau in der Galerie formformsuche (Filzengraben 22, geöffnet samstags 12−18 Uhr und nach Vereinbarung, Tel. 0171/28 67 457). (EB)
Literatur als kritisches Sprachrohr aber lehnt er ab: „Ich schreibe nicht, um die Wirklichkeit zu verändern, ich will sie erst einmal begreifen.“ So bleiben politische Einwürfe selten, auch wenn Becker 2017 in „Graugänse über Toronto“ eine sarkastische Fußnote zum Flüchtlingselend setzt: „Das Mittelmeer können wir buchen, die Küstenwache kümmert sich um die Leichen.“
Zu diesem Zeitpunkt hat sein Werk längst den zweiten Kölner Literaturpreis (1995) gewonnen – und einen unverkennbaren Sound. Anfangs aber kann der Vielgelobte von seinen Büchern nicht leben und braucht Brotberufe als Rowohlt-Lektor, Leiter des Suhrkamp-Theaterverlags und Hörspielchef beim Deutschlandfunk (1974-94).
Zwar heißt ein früher Gedichtband „Das Ende der Landschaftsmalerei“, doch gerade die beherrscht der in Köln-Brück und Odenthal lebende Wortkünstler brillant. Nicht im Sinn romantischer Ölschinken, sondern mit subjektivem Scharfblick auf Schönheiten wie Hässlichkeiten der Kölner Bucht.
Fasziniert von der Vielfalt Kölns
Mit seiner zweiten Ehefrau, der Malerin Rango Bohne (1932-2021), findet er eine ideale Duettpartnerin. „Sie hat von Anfang an Collagen gemacht, und das war eine verblüffende Parallele zu meiner Art des Schreibens.“ In den Bänden „Fenster und Stimmen“ und „Scheunen im Gelände“ kann man das Wechselspiel von Wort und Bild ebenso bewundern wie in der Gesamtausgabe „Gesammelte Gedichte“, zu der Beckers Sohn Boris seine raffiniert-unpathetischen Fotos beisteuert.
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Dieses mehr als 1100 Seiten starke Lebens-Werk (im Hausverlag Suhrkamp) spiegelt die schöpferische Methode des Büchner-Preisträgers von 2014. Er erblickt im Heute das Gestern, durchleuchtet die Schichten von Orten, in die sich Zeitgeschichte und persönliches Schicksal eingeschrieben haben. An Köln fasziniert ihn, dass hier Stefan Lochner, Max Ernst, Willy Ostermann und Heinrich Böll gelebt haben – ohne dass er übersähe, dass die Dom-Umgebung „vollgekotzt ist mit Beton“.
Das eigene Leben als Steinbruch des Werkes
Jürgen Becker bekennt, kein Talent zu großer Fiktion zu haben, sein unerschöpflicher Steinbruch ist das eigene Leben. In den Journalromanen (u.a. „Schnee in den Ardennen“, „Jetzt die Gegend damals“) wird Jörn Winter sein anderes Ich. Als Jörn wie der siebenjährige Jürgen 1939 aus dem bombenbedrohten Köln(-Dellbrück) für acht Jahre nach Erfurt gebracht wird, ist dies „der erste Riss in seinem Leben“. Es folgen weitere wie die Scheidung der Eltern und das Scheitern der eigenen ersten Ehe.
Bei all diesen Erinnerungen geht es um nichts Geringeres als „die Fortsetzung des Selbstgesprächs, das Kontakt mit den Augenblicken hält, die unaufhaltbar vergehen“. Und obwohl sich der rote Faden durch individuelle Erfahrungen schlängelt, stimulieren Signalwörter wie „Sirenen“, „Kohlenklau“ oder „Tankwart“ das kollektive Gedächtnis.
In einem Gespräch mit dieser Zeitung hat Jürgen Becker gewohnt bescheiden gesagt: „Es sind schöne Erfahrungen, wenn Leser über meine Texte in ihre Kindheit zurückkehren.“ Einen besseren Reiseführer können sie sich nicht wünschen.