Festival „Acht Brücken“ in KölnWie Musik als Waffe gegen das Vergessen hilft
Köln – „Musik – Amnesie – Gedächtnis“ – wer verstehen will, in welch engem Verhältnis diese drei Begriffe stehen, findet dieser Tage in Bergneustadt eine Antwort. „EinfachMalSingen“ heißt der Chor, mit dem Dirigent und Komponist Joachim Kottmann gerade für den Auftritt bei „Acht Brücken“ probt. Viele der Sängerinnen und Sänger haben Probleme mit dem Gedächtnis. Sie leiden unter Amnesie, besser gesagt: unter Demenz, und finden zur Probe nur mithilfe eines Pflegers oder Angehörigen.
Einige sitzen auch nach einer halben Stunde noch apathisch da und schauen ins Leere. Doch dann geht auf einmal ein Ruck durch den Körper, die Augen leuchten, der Mund geht auf. Was Joachim Kottmann auf seinem Keyboard vorspielt, kennen sie von früher: ein Volkslied, ein Schlager, eine Melodie aus ihrer Kindheit, und plötzlich singen sie aus voller Brust: „Guten Abend, gute Nacht“ und „Liebeskummer lohnt sich nicht“.
Der Geist kann in die Irre führen
Regisseur Valerij Lisac ist oft bei den Proben gewesen, hat Lieder aufgenommen, Videos gedreht und auch abseits mit den alten Menschen gesprochen. Die Neurologie bestätigt Lisacs Erfahrungen: Musikalische Erinnerungen bleiben im Gedächtnis besonders lange erhalten und zeigen eine auffällige Beharrungskraft selbst bei denen, die das meiste andere schon vergessen haben. Und wenn ein Lied dann plötzlich erinnert wird, kommen oft andere Erinnerungen dazu: Erinnerungen an schöne Erlebnisse, an Gerüche und Geschmäcker, und Menschen, die sonst kein Wort mehr sprechen, können plötzlich strophenweise Liedtexte singen.
„Acht Brücken“: Vier Konzerttipps
„Unearthing Melodies“ mit dem Asasello Quartett und dem Chor EinfachMalSingen , 2. und 3. Mai, 18 Uhr, TanzFaktur
Marcus Schmickler: „Schreber Songs. Don’t Wake Up Daddy“
mit den Kölner Vokalsolisten und dem Ensemble Ruhr, 30. April, 17 Uhr, WDR Funkhaus
Symposium. Ein Rausch in acht Abteilungen mit dem Klangforum Wien, 30. April, 19 bis 0 Uhr, Stadthalle Köln-Mühlheim
Morton Feldman: „For Bunita Marcus“ mit Hsin-Huei Huang, Klavier. 2. Mai, 8 Uhr, Kunst-Station Sankt Peter
(ram)
Dass darauf kein Verlass ist, weiß Lisac, und will die alten Menschen auch nicht auf einer Bühne bloßstellen: Bei seinem Projekt „Unearthing Melodies“ wird man nur Aufnahmen von ihnen sehen und hören. Gemeinsam mit dem Asasello Quartett werden sie über diesen Umweg zum Teil einer Konzertinszenierung, die auch mit den aufgeführten Werken von Alfred Schnittke und Peter Ruzicka zeigt: Musik und Erinnerung gehen Hand in Hand.
Davon war auch Morton Feldman überzeugt. In der aktuellen Ausgabe des Kölner Festivals „Acht Brücken“ ist der 1987 verstorbene US-Amerikaner gewissermaßen der posthume Composer in Residence. Musikalische Form, so Feldman, heißt nichts anderes als: Etwas wird präsentiert, zum Beispiel ein Motiv, eine Melodie, ein Rhythmus, dann wird es verändert. Die Musik entfernt sich mal mehr, mal weniger von ihrem Ausgangspunkt, am Ende kehrt sie aber doch immer wieder zurück – und wir freuen uns darüber: Für Feldman eine Einladung, in seinem Spätwerk gezielt mit den Stärken und Schwächen unserer Erinnerung zu spielen. So gibt es in den beiden weit über einstündigen Klavierwerken bei „Acht Brücken“ immer wieder Momente, in denen man glaubt, etwas zu erinnern, was in Wahrheit aber neu ist, und wo man überrascht wird von dem, was man eigentlich schon kennen sollte. Feldman ist auch in der langen Samstagnacht dabei, die an den antiken Brauch des Symposiums anknüpft.
Festival bietet einen Gratis-Schnupper-Tag
Festivalchef Louwrens Langevoort führt als Zeremonienmeister durch den fünfstündigen „Rausch in acht Abteilungen“, der münden wird im „Raum der Erinnerung“ vom Minimal-Music-Guru Terry Riley – und überleiten zum beliebten „Freihafen“, dem traditionellen Gratis-Schnupper-Tag des Festivals.
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Wie sehr einen der Geist in die Irre führen kann und wie wenig real Stimmen sein können, obwohl man sie deutlich hört, davon wiederum erzählt der Kölner Komponist Marcus Schmickler in seinen „Schreber Songs“. Im Zentrum der „szenischen Kammermusik“ steht Daniel Paul Schreber. Der Sohn des Begründers der deutschen Kleingartenkultur und ein angesehener Jurist, litt unter einer schweren Paranoia: Götter redeten nicht nur ständig auf ihn ein, beteuerte Schreber, sie notierten auch alles, was er tat und dachte.
Und auch Schreber führte Buch über die Stimmen in seinem Kopf: Seine 1903 veröffentlichten „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ haben Psychologen und Philosophen seit Sigmund Freud fasziniert.