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„x-mal Mensch Stuhl““ Kölner Künstlerin Angie Hiesl zu ihrer unüblichen Arbeit

Lesezeit 7 Minuten

Freut sich, wenn die Menschen durch ihre Kunst einen nicht ganz alltäglichen Moment erleben: Angie Hiesl.

  1. Angie Hiesl ist eine bekannte Aktionskünstlerin aus Köln.
  2. Der Alltag ist hauptsächlich ihr Kunst-Feld. Jeder Ort kann inspirieren.
  3. Mit Bernd Imgrund sprach die Kölnerin über die Kunstszene und die Besonderheit ihrer Arbeit.

Köln – Wir sitzen in Angie Hiesls Atelier im Rheinauhafen. An der Wand: die Original-Eingangstür der 1987 abgerissenen Stollwerckfabrik, die ein Zentrum der freien Kunstszene Kölns war.

Was bedeutet dieses Gebäude, dieser Ort für Sie?

Die Nähe zum Wasser hat meine Arbeit schon immer beflügelt. Wunderbar ist, dass wir hier so zentral in der Stadt arbeiten können. Für das Rhenania als Kunstort mussten wir lange kämpfen – ich würde es immer wieder tun.

Ist der Rhein der Vater aller Flüsse?

(lacht) Also, ich denk da eher an den Amazonas . . . Aber der Rhein hat eine besondere Kraft, keine Frage. 1990 habe ich eine große Inszenierung für die wunderschöne Südbrücke gemacht.

Sie gehen vor die Tür und stehen sofort mitten im Kunst-Feld?

Mitten im Alltag vor allem, denn der Alltag ist unser Kunst-Feld. Uns kann jeder Ort, auch jeder Un-Ort inspirieren. Wichtig ist der neue Blickwinkel, die Ver-Rückung durch die Kunst, das Neu- oder Umdefinieren des Gewohnten.

Ihre Performances finden im öffentlichen Raum statt. Was sind dabei die Risiken?

Das Unvorhergesehene! Ganz im Positiven. Wir kommen mit einer gewissen Struktur, sind aber dann konfrontiert mit dem Geschehen im öffentlichen Raum, das wir nicht kontrollieren können. Es ergibt sich eine neue ästhetische Herausforderung, als Bereicherung der Arbeit. Die Passantinnen und Passanten können bei den Aktionen oft nicht unterscheiden, was Kunst und was Alltag ist.

Erinnern Sie sich an einen besonderen Moment?

Als wir 2008 „china-hair-connection Peking-Köln“ im Eigelstein inszenierten, tauchte dort eine Frau auf, die die beiden Aktionsorte mit Scherenschnitten begleitete. Ganz versunken in ihre eigene Welt, ein magischer Moment, wurde sie Teil unserer Performance. Sie war sich dessen gar nicht bewusst. Da verschwimmen die verschiedenen Realitäten im Öffentlichen.

Warum gehörte das dann dazu?

Wir lassen so etwas geschehen – wie viele andere Ereignisse rundherum. Da zieht jemand knatternd sein Gepäck hinter sich her, dort schaut jemand kurz aus dem Fenster, alles geschieht gleichzeitig mit unserer Aktion und gehört dann dazu. Einmal kam mitten durch unsere Performance eine Pilgerprozession mit Kreuz und Priester im Ornat.

Wie wichtig ist Ihnen, dass die Leute stehen bleiben?

Es ist schön, wenn die Menschen einen nicht ganz alltäglichen Moment erleben, eine Irritation, oder sagen wir: eine Bildstörung. Es löst etwas aus, wenn man jemanden in sechs Metern Höhe auf einem an der Fassade angebrachten Stuhl sitzen sieht.

Diese Fassadeninszenierung namens „x-mal Mensch Stuhl“ ist Ihr bekanntestes Werk, uraufgeführt in Köln vor 25 Jahren. Wann merkten Sie, dass diese Sache offenbar länger nachwirkt als manch andere Aktion?

Erst im Laufe der Zeit. Die Idee kam aus absoluter Leichtigkeit heraus. Das Bestechende an dieser Arbeit ist wahrscheinlich die Einfachheit: Ältere Menschen sitzen hoch an Wänden und verhalten sich auf eine private Art, indem sie etwa ein Buch lesen oder rauchen. Und das schwebt über den Passanten und Passantinnen.

34 Aufführungen in 16 Ländern: andere Kulturen, andere Reaktionen?

Ja, durchaus. Ich will nicht verallgemeinern, aber die Menschen in Südamerika etwa sind der Aktion mit einem außergewöhnlichen Humor begegnet und haben sich auch immer wieder spielerisch eingebracht. Ich erinnere mich gern an den Straßenkehrer, der gleich Capoeira unter dem Stuhl vorführte. Es gab auch zwei Karikaturen in großen Tageszeitungen.

Und die Deutschen gehen knurrig dran vorbei?

So klischiert ist es wieder nicht. Aber Reaktionen wie „Was machen die nur mit unseren Steuergeldern“ bekommt man in Südamerika definitiv nicht.

Was ist der künstlerische Mehrwert einer Wiederholung über 25 Jahre?

Es bleibt immer spannend, welchen Menschen wir dabei begegnen. Und wenn wir die Bilder von 1995 betrachten, entdeckt man etwa die Veränderung der Kleidung, aber auch fast ausgestorbene Handhabungen. Eine Frau schnitt ihren Brotlaib mit dem Messer zum Körper hin, wie in alter Zeit. Zuvor hatte sie jede Scheibe mit einem Kreuz gesegnet.

Haben Sie mal selbst auf einem solchen Stuhl gesessen?

In einer Vorläuferperformance namens „2 Stühle − 2 Stühle“. Ich bin höhenlüstern, ich fühle mich dort oben sehr wohl. Man schwebt über den Dingen, ist aber der Welt zugleich ausgesetzt: im Rücken nur die Wand, keine Ablage für Arme und Beine, und nach vorn hin die Weite.

Auf den Stuhl kommen bewusst nur alte Menschen, die meisten sind Ü70.

Genau, so hatte ich es von Anfang an vor Augen. Es war eine Auseinandersetzung mit dem Alter, die ich damals mit meiner Mutter stark erlebte. Junge, akrobatisch agierende Menschen dort oben zu platzieren, wäre mir zu einfach gewesen.

Sie haben die Kandidaten auf den Stühlen durch ein Auswahlverfahren gewonnen. Wer meldet sich da für ?

Durch die Bank Menschen aller sozialen Schichten und Berufsgruppen. In Bogotá/Kolumbien kamen nach den Aufführungen zwei Teilnehmende aus sozial sehr schwachen Verhältnissen auf uns zu und sagten: Zum ersten Mal in unserem Leben schenkt uns jemand Beachtung, schaut zu uns hoch! Das fanden wir sehr anrührend.

Früher haben Sie selbst performt, heute heuern Sie die Teilnehmer an. Wieso?

Die Dimension unserer Projekte ist zu groß geworden. Wir führen seit 2008 nur noch Regie, aber das ist für uns durchaus ein Gewinn.

Sie arbeiten seit 1997 mit Ihrem Kollegen Roland Kaiser zusammen. Zu zweit Kunst zu machen, ist ein eher seltenes Modell.

Bei uns stimmt’s einfach! Da hat sich über die Jahre ein Grundverständnis entwickelt, das unsere Arbeit weiterbringt. Unsere künstlerischen Ergebnisse sind nie Kompromisse, wir konzipieren so lange, bis wir genau wissen: So soll es sein!

Die Hoch-Zeit der Performancekunst waren die 1980er. Ging es früher eher politischer oder selbstreferentieller zu als heute?

Ich denke, zweiteres. Aber auch das hatte ja seine Berechtigung, denken Sie an die beinahe selbstverletzenden Performances etwa von Marina Abramovic, die sich mit einer Rasierklinge einen Stern in den Bauch ritzte. Das waren extreme gesellschaftskritische, auch politische Geschichten, für die man über den eigenen Körper ging. Heutzutage stehen eher soziale und kulturelle Identitätsfragen im Vordergrund.

Könnte man platterdings eine Kunstperformance für den Klimawandel machen?

Wenn man eine gute Idee hat – natürlich!

Ihre letzte Kölner Aktion namens „ICH.!!!“ fand kurz vor Weihnachten 2019 auf dem Kurt-Hackenberg-Platz an der Philharmonie statt. Haben Sie den legendären Kölner Kulturchef noch kennengelernt?

Leider nicht, aber ich habe seine Zeit mitbekommen, während der Köln ein Umschlagplatz der zeitgenössischen Kunstwelt war. Denken wir an den Bau des Ludwig-Museums, an den Kölnischen Kunstverein und die Kunsthalle. Unter Hackenberg wäre die Kunsthalle nie zerstört worden.

Zur Person

Angie Hiesl wurde 1954 im oberpfälzischen Riedenburg geboren und wuchs in Venezuela, Peru und Bonn auf. Seit den 1980ern präsentiert sie interdisziplinäre Projekte mit einem Schwerpunkt auf Installation und Performance.

Ihre berühmteste Aktion wurde die 1995 uraufgeführte „x-mal Mensch Stuhl“: ältere Menschen sitzen hoch über dem städtischen Alltag auf einem an die Fassade montierten Stuhl und führen alltägliche Handlungen aus wie Rauchen, Lesen, Radio hören.

Seit 1997 arbeitet Angie Hiesl mit dem Künstler Roland Kaiser zusammen – sämtliche Projekte entstehen seither in Kooperation. Sie gewann zahlreiche Preise, unter anderem 2012 den Künstlerinnenpreis des Landes NRW im Bereich der performativen Künste. Im September 2020 wird anlässlich des 25. Jubiläums von „x-mal Mensch Stuhl“ ein Buch erscheinen und eine Fotoausstellung im öffentlichen Raum stattfinden.

Angie Hiesl wohnt im Severinsviertel.

www.angiehiesl-rolandkaiser.de

Das ist ein Riesenverlust und bis heute ein Loch. Leider gab es nach Kurt Hackenberg all zu viele beratungsresistente Leute an den Hebeln der Kölner Kulturpolitik.

Sie haben auf diesem Platz überlebensgroße Buchstabenblöcke aufgestellt, die das Wort ICH bildeten. Warum nicht DU oder WIR?

Es ging uns um den grassierenden Egoismus und Egozentrismus. Der Bonner Dramaturg und Autor Lothar Kittstein hat zum Thema einen sehr deutlichen Text geschrieben, der aus den ICH-Blöcken zu hören war. Gerade vor Weihnachten war das ein echter atmosphärischer Bruch für die Passanten.

Dennoch werden sich viele große, kleine Ichs dort zum Selfie postiert haben, nehme ich an.

Viele Menschen sind natürlich stehen geblieben und haben Text, ICHs und ihre eigene Position versucht zu reflektieren.

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Aber klar, es wurden auch viele Ich-Ich-Ich-Selfies gemacht. Fanden wir sehr reizvoll, denn wenn man das dann wieder beobachtete, war das wie ein Bild im Bild im Bild . . .