Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Vergesslich, nicht vergessenWie das Leben in einer Kölner Demenz-WG abläuft

Lesezeit 5 Minuten
Demenz-WG 1

Leben in Gemeinschaft: In  der großen Wohnküche verbringen die Bewohner die meiste Zeit zusammen. 

Köln – Meist beginnt sie langsam. Eine vergessene Postleitzahl. Der Autoschlüssel, der im Kleiderschrank liegt. Ein verwechselter Name. Bei Bernd Hahn kam die Demenz nicht schleichend. Sie krachte mit vollem Tempo in sein Leben. Nach einem Sturz auf den Kopf fand sich der heute 76-Jährige in der Welt nicht mehr zurecht. Vielleicht ist seine Welt aber auch einfach nur kleiner geworden. Seit zweieinhalb Jahren lebt der Kölner auf 320 Quadratmetern in einer Demenz-WG – zusammen mit sieben weiteren Bewohnern.

Die Wohngemeinschaft am Mathiaskirchplatz in Bayenthal ist eine der ältesten Demenz-WGs in Köln, in diesem Jahr wird sie zehn Jahre alt. 2010 stellte die Antoniter Siedlungsgesellschaft (ASG) im Evangelischen Kirchenverband Köln und Region das Wohnhaus mit acht Bewohnerzimmern, einem Gemeinschaftsraum inklusive Küche und drei Gemeinschaftsbädern fertig. Beraten werden die Angehörigen, die als Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemeinschaftlich einen Mietvertrag mit der ASG abschließen, von Wohnkonzepte Schneider mit Sitz in Köln-Mülheim. Die gemeinnützige GmbH begleitet insgesamt elf Wohngemeinschaften für Demenzkranke in Köln. Durchgehend sind zwei Fachkräfte für die Pflege vor Ort, unterstützt durch zwei FSJler (Freiwilliges Soziales Jahr). „Eine bessere Alternative zum Altenheim“, sagt Susanne Hermanns von der ASG.

Gegen die Anonymität eines Pflegeheimes

Es ist ein typischer Vormittag in der Wohngemeinschaft. Am Tisch sitzen drei ältere Damen, eine liest Zeitung, eine andere schält Kartoffeln. Langsam, aber mit voller Konzentration. Wenn vieles im Alltag schwierig wird, sind dies vertraute Bewegungen mit dem Schälmesser. Gekocht und gegessen wird gemeinsam. Im Gruppenraum gibt es ein Regal mit Brettspielen, manchmal wird Musik aufgelegt.

Bernd Hahn sitzt auf dem Sofa. Nicht rastlos, ganz entspannt. Ein Jahr lang lebte er im Altenheim, erzählt seine Tochter Carmen. Rückblickend eine schlimme Zeit, „ich glaube nicht, dass er das überlebt hätte“, sagt seine Tochter. Die lieblose Behandlung der Pfleger und die Anonymität dort setzten dem Demenzkranken zu. „Er war ängstlich, hat sich manchmal an mein Bein geklammert und hat gesagt: Bitte nimm’ mich mit. Ich konnte keine Nacht mehr gut schlafen.“ Durch eine Freundin erfuhr Carmen Hahn von der Demenz-WG. „In einem Heim muss man sich theoretisch nie wieder blicken lassen, wenn das Geld auf dem Konto ist“, sagt die Studentin. Das wollten sie und ihre Familie nicht. „Wir wollen weiter miteinander leben, wenn auch nicht unter einem Dach.“ Die 28-Jährige wird angerufen, wenn ihr Vater stürzt, wenn er nicht mehr gut sieht, muss sie mit ihm zum Augenarzt. „Das ist der größte Unterschied zum Heim. Ich mache nicht die Tür zu und Tschüss.“ Sie hat einen Schlüssel, Besuchszeiten gibt es nicht. Die Angehörigen vertreten die WG-Bewohner in allen Belangen, sie beauftragen den Pflegedienst, bestimmen die Höhe des Haushaltsgeldes, organisieren Ausflüge und die Aufnahme neuer Mitbewohner. Quasi vergleichbar mit einer Elterninitiative für die Kinderbetreuung.

Demenz-WG 2

Mehrmals pro Woche besucht Carmen Hahn ihren Vater in der WG. Besuchszeiten für die Angehörigen gibt es nicht.

Das selbstverantwortete Konzept kommt an, Wohnkonzepte Schneider und andere Anbieter wie die GAG bekommen viele Anfragen von Angehörigen. Vom Alter hängt die Aufnahme in die WG nicht ab. Aktuell sind die Bewohner am Mathiaskirchplatz im Alter zwischen 76 und 94. „Meistens kommen die Bewohner ab dem Pflegegrad 3 zu uns“, sagt Brit Timmermann, eine der Geschäftsführerinnen von Wohnkonzepte Schneider. Für viele Angehörige sei es schwierig, den richtigen Zeitpunkt zu finden, die Pflege komplett abzugeben. „Irgendwann kommt der Punkt, an dem man es zuhause alleine nicht mehr schafft. Es ist sehr anstrengend, sich um jemanden mit Demenz dauerhaft zu kümmern.“

Demenz-WGs

In Köln leben rund 30 000 Menschen mit einer demenziellen Erkrankung. Bundesweit gehen Schätzungen von mehr als 1,6 Millionen Demenzerkrankten aus.

Seit rund 15 Jahren gibt es betreute Wohngemeinschaften für Demenz-Kranke in Köln. Die meisten sind selbstverwaltet. Anbieter sind unter anderem die GAG, Wohnkonzepte Schneider oder Humanika. (hes)

Bernd Hahn ist zur Zeit der einzige Mann im Haus. In seinem Zimmer hängen Fotos seiner Frau und seiner drei Kinder. Er ist ein Familienmensch. „Wenn jemand auf der Straße ,Papa’ gesagt hat, hat sich mein Vater immer umgedreht“, erzählt Tochter Carmen. Der Hausmann kümmerte sich um die Kinder, seine Frau verdiente das Geld. Abends und am Wochenende ging er seiner großen Leidenschaft nach: Dixieland. Manchmal, wenn es am Nachmittag Angebote im Gruppenraum für die Senioren gibt, Gedichte lesen oder gemeinsames Singen, dann steht Bernd Hahn wortlos auf und geht in sein Zimmer. „Für ihn ist es die größte Strafe, zu Volksmusik zu singen und zu klatschen“, erklärt Carmen Hahn. Auch das muss man dürfen in der WG, in die jeder Bewohner seine Vorlieben und Abneigungen mitbringt. Jeden Mittwoch spielte der Schlagzeuger im „Streckstrumpf“, der legendären Jazzkneipe in der Kölner Altstadt. „Jazz Preachers“, antwortet Hahn blitzschnell auf die Frage, wie seine frühere Band hieß. Das ist etwas, was er nicht vergessen hat.

Das könnte Sie auch interessieren:

Während der Corona-Pandemie hat die Wohngemeinschaft selbst entschieden, wie der Kontakt weiter stattfinden kann. Über die kleinen Terrassen vor den Zimmern etwa. „Jemandem mit Demenz kann man nur schwer verständlich machen, warum man nicht reinkommen kann oder einen Mundschutz trägt“, erklärt Carmen Hahn. Sie holt ihren Vater oft mit dem Rollstuhl zum Spazieren gehen ab. Die Goltsteinstraße ist nicht weit, er mag die Marzipantörtchen, die es dort beim Bäcker gibt. Manchmal gibt es aber auch Tage, da ist ihr Vater ganz ruhig, reagiert kaum. Demnächst will sie deshalb mal seine alte Trommel mitnehmen. Damit Bernd Hahn ein bisschen jammen kann. Natürlich im Gruppenraum, damit die ganze WG zuhören kann.