Patienten ruhiggestellt?Schwere Vorwürfe gegen Kölner Kinderpsychiater Winterhoff
Köln – Im Jahr 2008 sorgte Michael Winterhoff mit seinem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ für Furore. Seine in Fachkreisen durchaus umstrittene populärwissenschaftliche Generalabrechnung mit angeblichen pädagogischen Fehlentwicklungen machte den Bonner Kinderpsychiater berühmt und zum gern gesehenen Talkshowgast. Eine TV-Dokumentation legt nun nahe, dass seine spitzen Thesen im Praxisalltag in zweifelhaften Behandlungsmethoden resultierten.
Das ist Michael Winterhoff
Der 66-Jährige studierte nach Angaben auf seiner Homepage von 1977 bis 1983 Humanmedizin und ist seit 1988 als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn niedergelassen. Als Sozialpsychiater ist er zudem in der Jugendhilfe tätig. Er befasse sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter. In „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, weiteren Büchern sowie vielen Vorträgen und Medienauftritten prangerte er an, dass Kinder heutzutage wie kleine Erwachsenen behandelt würden. Die Erziehungsberechtigten gerieten in eine Abhängigkeit vom Kind, da sie von ihm partout geliebt werden wollten, was narzisstische Persönlichkeiten (kleine „Tyrannen“) heranzöge.
Die Vorwürfe
Der WDR und die „Süddeutsche Zeitung“ haben mit mehreren ehemaligen Patienten Winterhoffs, einer früheren Mitarbeiterin und kritischen Fachleuten gesprochen. In der TV-Doku „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ berichten sie, dass der Arzt – der nach eigenen Angaben zeitweise auch mit 20 bis 30 Pflegefamilien und Heimen zusammenarbeitete – zu häufig die undifferenzierte Diagnose „frühkindlicher Narzissmus“ stelle. Er habe teils über Jahre das Medikament Pipamperon verordnet und unangenehme Untersuchungen im Genitalbereich vorgenommen. Dabei hätten sie ihn nur „alle paar Monate für wenige Minuten“ persönlich zu Gesicht bekommen.
Das sagen die Kritiker
Gegenüber der „Zeit“ sagte Renate Schepker von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zur Pipamperon-Vergabe, es sei „auf keinen Fall mehr Stand der Wissenschaft, Kinder über Jahre damit zu behandeln“. Der Einsatz des Psychopharmakons sei veraltet. Es hat eine sedierende Wirkung – Betroffene erklärten, die Kinder hätten sich anschließend wie Roboter verhalten. Die ebenfalls im Film zitierte Kinderpsychiaterin Ulrike Mattern-Ott bezeichnet des Weiteren eine Genitaluntersuchung in ihrer Fachrichtung als „mehr als befremdlich“.
Das sagt Winterhoff
In einer Stellungnahme auf seiner Homepage betont Winterhoff, Pipamperon „nur in Einzelfällen mit spezieller Indikation“ und keineswegs flächendeckend verordnet zu haben. Das Ziel des Einsatzes sei bewusst keine Sedierung. Zu den Genitaluntersuchungen erklärt er, dass vor einer medikamentösen Behandlung „immer“ eine körperliche und neurologische Untersuchung erfolge, um diese Faktoren als Ursachen von Verhaltensstörungen auszuschließen. „So konnte ich in der Vergangenheit bereits viele Fehlstellungen, Herzfehler sowie Lebervergrößerungen und Hirntumore diagnostizieren. Seit mindestens fünf Jahren habe ich diese Untersuchungen komplett an den behandelnden Kinderarzt delegiert“, erklärte er weiter.
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Die Reaktionen
Inzwischen haben mehrere Betroffene Strafanzeige gegen Winterhoff erstattet, wie die Staatsanwaltschaft Bonn bestätigt. Die Ärztekammer Nordrhein hat eine berufsrechtliche Prüfung aufgenommen. Der Kinderarzt und Bestseller-Autor Herbert Renz-Polster („Kinder verstehen“) sieht im Gespräch mit unserer Redaktion eine größere Dimension des Falls: „Michael Winterhoff ist nur der Anlass – der Boden darunter muss uns interessieren. Wie kann ein Kinder- und Jugendpsychiater das so lange machen?“ Renz-Polster beschreibt die Jugendhilfe als geschlossenes System: „Man kennt sich, man ist sich wechselseitig verpflichtet. Es muss uns Angst machen, dass wir so ein schlecht kontrolliertes System haben.“
Hinter Winterhoffs publizistischem Erfolg vermutet er fachfremde Mechanismen: „Da präsentiert ein niedergelassener Psychiater eine simple Theorie – und weil sie in aller Munde ist, gilt er auf einmal als Top-Experte. Dahinter steht eine tiefe Sehnsucht nach einfachen Lösungen in Erziehungsfragen.“ Für Renz-Polster sind die Ungereimtheiten um Winterhoffs Behandlungsmethoden darum erst der Anfang: „Jetzt ist ein Dominostein gefallen – da wird noch mehr kommen.“