- Marlene Merhar musste miterleben, wie ihr Kind an Krebs erkrankte – und engagiert sich seitdem im Förderverein krebskranker Kinder. Bernd Imgrund sprach mit ihr über den Umgang mit Liebe, Hoffnung und Tod.
- Das „Kölner Elternhaus“ für die Eltern krebskranker Kinder liegt direkt auf dem Gelände der Universitätsklinik. Die Eltern werden psychologisch betreut und beraten, außerdem können sie hier übernachten, um schnell bei ihrem Kind zu sein.
Köln – Was hat Ihnen die Überreichung des Bundesverdienstkreuzes durch die Kölner Oberbürgermeisterin 2016 bedeutet?
Zunächst einmal war ich völlig überrascht. Meine Vorstandskollegen haben das initiiert, aber ich wusste bis zuletzt von nichts. Eines Morgens lag dann dieser Brief im Kasten, und mein Mann begann zu grinsen. Natürlich habe ich mich dann sehr gefreut.
Warum haben Sie, aus Ihrer Sicht, diese Auszeichnung verdient?
Weil ich für den Förderverein krebskranker Kinder sehr viel getan habe. Als Betroffene weiß ich, dass solch ein Verein eine große Hilfe bei der Verarbeitung sein kann. Und ich denke, diese Arbeit wurde mit dem Bundesverdienstkreuz von der Gesellschaft honoriert.
Beeinflusst Corona die Abläufe hier im „Elternhaus“?
Sehr stark, denn Corona macht vor Krebs nicht halt. Bei den Kindern hier handelt es sich um immungeschwächte kleine Personen, die sich unter keinen Umständen anstecken dürfen. Zum Glück und dank unserer Maßnahmen gab es in unseren beiden Häusern bislang noch keinen einzigen Fall.
Wer braucht eine Einrichtung wie diese?
Die Eltern sitzen oft zehn Stunden in der Uniklinik am Bett ihrer Kinder und kommen abends einfach schlecht oder gar nicht nach Hause. Als Mönchengladbacherin habe ich das 1990 am eigenen Leib erfahren. Mein Mann brauchte unser Auto für die Arbeit, und ich musste irgendwie in Köln bleiben können.
Was bieten Sie an?
Die Eltern kommen hier hin mit der Diagnose: Mein Kind hat Krebs. Das bedeutet Operationen, Chemotherapie, Lebensgefahr und Verzweiflung. Deshalb sind wir hier kein Hotel, das nur die Schlüssel übergibt, sondern wir betreuen die Eltern in jeder Hinsicht. Die Menschen können hier wohnen, kochen, ihre Wäsche waschen und finden bei Bedarf immer einen Ansprechpartner. Und zum Bett ihres Kindes sind es nur ein paar Meter.
Stellen Sie bei den Eltern einen Unterschied zwischen Männern und Frauen fest?
Ja, wie so oft. Männer wollen Stärke zeigen, ganz wenige lassen ihren Gefühlen freien Lauf und weinen vielleicht auch mal vor anderen. Deshalb haben wir auch einen Mann im Führungsteam, mit dem viele Männer, auch manche Frauen lieber sprechen. So etwas merken unsere Mitarbeiter sehr schnell.
Nach so einer Diagnose stürzt sich der oder die eine zur Ablenkung in Arbeit, andere fallen in ein Loch. Wie war das bei Ihnen?
Ich bin ein Mensch, der immer anpackt. Ich habe sofort angefangen, mich über alles zu informieren und mit anderen Betroffenen zu reden. Ich wollte herausfinden, wie ich damit fertigwerden könnte. Und nach der zunächst erfolgreichen OP bei meinem Sohn haben wir dann auch Hoffnung geschöpft.
Eine Hoffnung, die leider enttäuscht wurde. Wie reagierte Ihr Umfeld, die Freunde und Nachbarn?
Sehr unterschiedlich. Manche zogen sich vorsichtig zurück, andere wechselten die Straßenseite, wenn sie mich sahen. Damals habe ich darauf sehr grantig reagiert, heute spreche ich solche Verhaltensweisen an, wenn mir der Mensch wichtig ist.
Hatten Sie noch ein Alltagsleben?
Die Gesellschaft von Freunden oder Nachbarn konnte ich manchmal nicht ertragen, mein Mann brauchte diese jedoch. Männer ticken anders, wie gesagt. Damals haben wir, glaube ich, beide keinen Trost beim anderen gefunden. Aber wir haben es geschafft, bis heute zusammenzubleiben, und darüber bin ich sehr froh!
Das Motto Ihres Vereins lautet: „Nur Fledermäuse lassen sich hängen.“
Das stammt von unserem allerersten Bewohner, ein zwölfjähriger Junge namens Sven Hendrik. Er hat nicht überlebt, aber die Eltern haben uns erlaubt, seinen Spruch zu benutzen.
Der Tod des eigenen Kindes ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Ist es überhaupt möglich, so etwas irgendwie zu verarbeiten?
Noch Jahre nach dem Tod meines Sohnes passierte es mir, dass ich in einem Laden nach Kindersocken griff. Und dann realisierte: Die brauchst du ja gar nicht mehr. Daran habe ich gemerkt: Ich denke nicht jede Sekunde daran, dass ich ein totes Kind habe. Aber ich weiß in jeder Sekunde, dass ich ein Kind habe. Das ist immer präsent.
Sind die kranken Kinder manchmal stärker als die Eltern?
Allerdings, sehr oft trösten die Kinder die Eltern. Die sagen, Ich will nicht, dass meine Mama weint, und dann spielen sie ihr vor, es gehe ihnen blendend. Manche Kinder machen sogar ihr Testament hier. Mein Sohn hat sein schönes Hochbett aus Vollholz einem Mädchen vermacht. Dessen Mutter war zunächst fassungslos: Das Bett eines toten Kindes? Aber mein Mann hat das Bett dann dort aufgebaut, und das Mädchen hat bis zu seinem 18. Geburtstag darin geschlafen.
Eine schöne Geschichte.
Ja, so ist es. Auch wenn die Erfahrung immer furchtbar bleiben wird, gibt es ein paar schöne Erlebnisse, die man nicht vergisst.
Hat Ihnen die Kirche, der Glauben geholfen?
Als unser Sohn in der Klinik lag, habe ich eine Kirche hier in der Nähe besucht. Ich bin katholisch, aber als ich dann da saß, dachte ich mir: Soll ich jetzt wirklich den lieben Gott bitten, dass mein Kind gesund wird? Was ist denn das für ein Schwachsinn? Gott bestechen, indem ich zum Beispiel zu Fuß nach Kevelaer gehe, das funktioniert nicht! Man kann nur dafür beten, das durchzustehen, was man ertragen muss.Was hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Krebstherapie getan?Jedes Jahr erkranken rund 1800 Kinder an Krebs. Etwa vor 70 Jahren sind die alle gestorben, heute überleben rund 80 Prozent der Kinder. Und das, obwohl die Pharmaindustrie auf diesem Gebiet kein großes Engagement zeigt.
Warum nicht?
Es gibt zahlreiche Krebserkrankungen im Kindesalter, die alle nach einer unterschiedlichen Therapie verlangen. Dadurch gibt es extrem wenige Fälle - besonders weil viele dieser Krebsarten selten oder praktisch nicht im Erwachsenenalter auftreten. Für so wenige Menschen Medikamente zu entwickeln, lohnt sich für Pharmafirmen nicht.
Ein Zynismus der Marktwirtschaft.
Genau, und deshalb wird die Forschung auf diesem Gebiet vor allem privat finanziert. Wir haben zum Beispiel eine Stiftungsprofessur für Neuroblastom initiiert. Das ist eine bösartige Erkrankung des sympathischen Nervensystems, die vor allem im frühen Kindesalter auftritt. Die ersten fünf Jahre haben wir mit einer halben Million Euro angeschoben, und jetzt übernimmt das die Universität.
Mehr Kinder als früher überleben – aber gesunden sie auch?
Etwa ein Drittel wird tatsächlich gesund. Ein weiteres behält leichte Schäden zurück, und der dritte Teil aller Kinder überlebt geistig und/oder körperlich behindert.
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Wie kann man die zukünftige Entwicklung beeinflussen?
Neben der Unterhaltung unserer Häuser hier liegt uns vor allem die Nachsorge am Herzen. Zum Beispiel betreuen wir junge Erwachsene, die als Kinder Krebs hatten. Das Thema ist noch immer tabuisiert. Vielen fällt es schwer, gegenüber ihren Kollegen, Freunden oder sogar dem Partner davon zu erzählen. Wir wollen ihnen helfen, das zu ändern.