In seinem Buch „Meine Eltern, diese gemeine Krankheit und ich“ erzählt Marco Schreyl, wie die Krankheit seiner Mutter ihn verzweifeln ließ.
Moderator Marco Schreyl über Mutter mit Chorea Huntington„Man muss manchmal den Mut haben, ein schlechtes Kind zu sein“
Die Krankheit Ihrer Mutter hat sich angeschlichen. Wann haben Sie realisiert, was Chorea Huntington wirklich bedeutet?
Es fing an, dass ich feststellte, dass meine Mutter leicht demente Anzeichen hatte. Dinge wurden nicht korrekt rekapituliert und Behauptungen aufgestellt. Das war schwer für mich, das zu respektieren und mit diesen unrealen Sichtweisen umzugehen. Wenn Mutter fand, es hat geregnet, obwohl die Straße trocken ist, musste ich das akzeptieren. Dazu kamen die körperlichen Einschränkungen: Arme und Beine lassen sich immer schwerer koordinieren, Reden und Schlucken, alltägliche Dinge werden immer schwerer. Festzustellen, dass meine Mutter geistig und körperlich immer schlechter drauf war und ich nichts für sie tun konnte, weil sie das nicht wollte, hat mich zerfetzt. Es hat mich so sehr beeinflusst, dass auch mein eigenes Leben drohte, zerstört zu werden.
Was haben Sie gefühlt, als Ihre Mutter sich nicht helfen lassen wollte?
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Ich war verzweifelt. Weil ich meine Mutter nicht mehr erreicht habe. Und da waren sehr viel Wut, Frustration und Unverständnis für die Leute, die Entscheidungen treffen. Ich hatte eine Patientenverfügung, für die wir uns in gesunden Zeiten zusammengesetzt hatten. Die war aber zu alt. Ich konnte die Logik dahinter nicht verstehen. Wäre die unterzeichnete Erklärung einer Frau, die schon sichtbar schwer krank war, etwa besser als das, was sie bestimmt hat, als sie jünger, aber noch fit war? Den Mitarbeitenden der Behörde waren die Hände gebunden. Festzustellen, dass eine Person, die sich selbst und die Welt nicht mehr kontrollieren kann, in unserem Staat das Recht hat, autark unterwegs zu sein, hat mich kaputt gemacht.
Was haben Sie sich damals vom Staat gewünscht?
Die Erlaubnis zu haben, meine Mutter an die Hand zu nehmen und sie dort hinzubringen, wo ich glaube, dass es ihr besser geht. Und ja, in einer Pflegeeinrichtung zu leben, ist nicht das Schönste, das kann ich komplett verstehen – da möchte man nicht freiwillig einziehen - aber Pflegeeinrichtungen in Deutschland sind größtenteils gut. Ich wünschte meiner Mutter natürlich Blumen im Fenster, bunte Bettwäsche und bei der Nachbarin Kaffee zu trinken. Das findet dort nicht statt. Aber es ist eine medizinische Grundversorgung da, Menschen, die sich mit der Erkrankung auskennen und Sicherheit. Das wäre mir schlussendlich lieber gewesen, als sie so zu erleben, wie ich es getan habe.
Was hat es mit Ihnen gemacht, das zu durchleben?
Ich war 24 Stunden, sieben Tage die Woche unter Strom. Das Telefon klingelte auch um drei Uhr nachts. Wenn ich dann aufgesprungen bin, nur um mir eine banale oder richtig aggressive Geschichte meiner Mutter anzuhören, bin ich an meine Grenzen gekommen. Ich bin in meiner Verzweiflung auch laut und böse geworden. Es war eine Daueraufgabe, ohne dass ich vor Ort war. Ich habe großen Respekt vor Menschen, die ihre pflegebedürftigen Eltern bei sich zu Hause haben. Die stehen damit auf, gehen damit ins Bett und sind auch dazwischen mit ihren Eltern beschäftigt. Das ist ein Mammut-Job, der immer unterschätzt wird.
Wie haben Sie diese Ambivalenz zwischen Wut und Liebe ausgehalten?
Ich war oft wirklich wutig unterwegs – wutig gegen mich selbst, weil ich es nicht geregelt bekam, wie ich es mir vorstellte. Als es meiner Mutter anfing, schlecht zu gehen, habe ich den Leuten gesagt: Wenn ihr mich laufend im Park seht, sprecht mich nicht an. Dann habe ich so viel Wut in mir, dass ich raus muss. Laufen war ein Ventil für mich. Auch zwischendrin mal was rausbrüllen, obwohl man beobachtet wird. Natürlich habe ich auch mal eine Stunde verzweifelt allein vor mich hin geweint.
Wie viel ist man seinen Eltern schuldig? Wann darf man Nein sagen?
Das ist eine Gratwanderung. Als meine Mutter am Telefon mal sehr böse Sachen zu mir gesagt hat, die mein Herz und meine Seele wirklich verletzt haben, habe ich ihr gesagt: „Wärst du eine Freundin, würde ich ab heute nichts mehr mit dir zu tun haben wollen. Geht aber nicht.“ Eine Grundverantwortung für die Eltern ist immer dabei, aber die Einsicht „Du musst dir selbst wichtiger sein, als die anderen es dir sind“, war für mich gedanklich entscheidend. Aber das ist natürlich ein langer Weg dahin.
Man muss also manchmal den Mut haben, in konventioneller Hinsicht ein schlechtes Kind zu sein.
Ja, ich dachte damals immer, dass ich ein schlechter Sohn bin. Du kannst niemandem erzählen, dass du aus Wut an Weihnachten nicht nach Hause fährst, weil du weißt, dass es ein schreckliches Weihnachten wird. Dann habe ich wahrgenommen, wie viele Familien denselben schweren Rucksack tragen. Deshalb wollte ich im Buch aussprechen: Ihr habt verdient, Nein zu sagen und nicht auf Knopfdruck parat zu stehen. Manchmal muss man in den Spiegel schauen und sagen: Ja, alle glauben grade du bist ein schlechter Sohn, lass sie’s glauben. Sei kurz ein schlechter Sohn und tu etwas für Dich. Auch Du hast nur dieses eine Leben. Ich glaube, viele Betroffene werden verstehen, was ich meine.
Sie haben Ihre Eltern kurz aufeinanderfolgend verloren. Was kann bei so einem Verlust helfen?
Die Zeit heilt solche Wunden, auch wenn es wirklich lange dauert. Ich vermisse meinen Vater und meine Mutter in regelmäßigen Abständen. Ich vermisse meinen Vater als jemanden, mit dem ich über die banalsten Dinge lachen konnte. Meine Mutter vermisse ich an Stellen, wo Soft-Skills gefragt sind. Sie wusste früher immer einen weisen Rat. Das sind Dinge, die nicht mehr möglich sind. Aber ich weiß immer mehr, dass diese Plätze auch von anderen Menschen, die mir wichtig sind, irgendwie ausgefüllt werden können. Wenn ich es zulasse.
Ist Ihr Buch auch etwas für Menschen, die Sie vorher noch nicht kannten?
Das würde ich mir wünschen. Ich würde gerne eine Art Pflaster verteilen. Auf keinen Fall sollte sich jemand dafür schämen, so etwas mit den Eltern nicht auf die Reihe zu bekommen. Wenn wir Mutter und Vater nicht mehr verstehen und Sachen passieren, die wir nicht mehr im Griff haben, schämt euch nicht dafür und redet darüber. Wenn Menschen mit Mitte 90 noch klar im Kopf sind, Fallschirm springen und dem Kater hinterherjagen, ist das super. Das klappt aber leider nicht in jeder Familie. Und denen möchte ich gerne Mut machen.
Sie haben sich nicht auf Chorea Huntington testen lassen. Warum?
Bisher nicht. Mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit kann es sein, dass ich die Huntington Krankheit vererbt bekommen habe. Ich war bis jetzt noch nicht bereit, diese mögliche Last in meinen Rucksack zu packen.
„Alles gut? Das meiste schon! Meine Eltern, diese gemeine Krankheit und ich“, Marco Schreyl, erschienen im Kiepenheuer&Witsch Verlag, 272 Seiten, 24 Euro.
Lesung
Marco Schreyl stellt sein Buch im Rahmen einer Lesung in Köln vor. Die Moderatorin Christine Westermann führt durch den Abend. Los geht's am 30. November um 19.30 Uhr im KairosBlue, Niehler Straße 104 in Nippes. Tickets gibt es für 15 Euro hier.
Was ist Chorea Huntington?
Die unheilbare Erbkrankheit Chorea Huntington mündet in Demenz und endet tödlich. Sie greift einen Bereich des Gehirns an, der für die Muskelsteuerung und grundlegende mentale Funktionen wichtig ist. Reizbarkeit und Aggressivität, ungewollte Bewegungen, Bewegungsarmut, Gedächtnisstörungen oder die Unfähigkeit zu Schlucken gehören zu den Symptomen der Krankheit. Die ersten Anzeichen treten meistens ab dem 40. Lebensjahr ein. Erkrankte sterben im Schnitt 15 Jahre danach.
Zur Person
Der 49-jährige Moderator Marco Schreyl wächst in Apolda in Thüringen auf. Heute lebt er in Köln. Schreyl hat große RTL-Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ moderiert und ist heute Gastgeber der „Sonntagsshow mit Marco Schreyl“ auf WDR 2. Seine Mutter bekommt 2015 die Diagnose Chorea Huntington. Er versucht alles, um ihr zu helfen. Insbesondere, nachdem sein Vater stirbt. Er will sie in ein Pflegeheim bringen, doch die Mutter weigert sich und bleibt in Apolda. 2021 stirbt sie mit 65 Jahren in einer Klinik.