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Kehren statt KnastWie eine Kölner Initiative Haft für Bedürftige verhindern will

Lesezeit 6 Minuten
Ein Straßenkehrer fegt eine Straße.

Gemeinnützige Arbeit kann die Gefängnisstrafe ersetzen. (Symbolbild)

In NRW werden derzeit über tausend Menschen aufgrund ihrer finanziellen oder persönlichen Situation mit Haftstrafen belegt, statt mit Geldbußen, was kontrovers diskutiert wird.

Vor vier Monaten war das Leben von Peter F. noch ein gutes Leben. Dann geriet es aus den Fugen. Der 45-Jährige wurde von seiner Partnerin verlassen, der vierjährige Sohn blieb bei ihr. Es folgte ein Absturz, versäumte Termine bei Ämtern, Übernachtungen bei Freunden, dann im Zelt. Als das Geld alle war, stahl er Alkohol, wurde prompt zweimal erwischt. Die Mahnungen für die Geldstrafen gingen an seine alte Adresse. Weil er nicht reagierte, erging ein Haftbefehl. Wenn Peter F. jetzt auf der Straße aufgegriffen wird, muss er eine Freiheitsstrafe im Gefängnis verbüßen.

Formell richtig, aber auch gerecht?

Wie Josip W. Der 61-Jährige ist psychisch beeinträchtigt, er lebt in einem von der Stadt finanzierten Mehrbettzimmer und hat ebenfalls Bagatelldelikte begangen. Er kann nicht richtig lesen und öffnet seine Briefe nicht. Weil er die als Strafmaß verhängten Tagessätze nicht bezahlt hat, ist er jetzt in Haft in der Justizvollzugsanstalt Ossendorf.

1101 Menschen saßen am Stichtag 30. April 2024 in NRW zur Verbüßung solcher Ersatzfreiheitsstrafen (EFS) ein; ebenso wie diese beiden fiktiven Fälle für Vergehen, die eigentlich mit einer geringen Geldstrafe geahndet werden. Die Zahlungsunfähigkeit wird im Zweifel mithilfe eines Gerichtsvollziehers nachgewiesen.

Das beschrieben Prozedere ist formell korrekt und rechtens. Aber ist es auch richtig? Und ist es gerecht? „Nein“, ist sich Thomas Quast, Vorsitzender Richter am Landgericht Köln, sicher. Unser Rechtssystem basiere darauf, dass alle Menschen, die sich für ihre Handlungen verantworten müssen, die gleichen Voraussetzungen haben. „Das ist nicht so, wenn Menschen nicht in dem Maße für sich selbst sorgen können, wie das die meisten Kölner und Kölnerinnen können“, sagt Quast. „Wenn sie obdachlos, psychisch krank, nicht selten auch suchtkrank sind, nicht lesen können, sich nicht auskennen mit Juristendeutsch und kaum Geld besitzen.“

Diese Menschen brauchen Hilfe

Quast ist seit vielen Jahren Richter im Bereich Strafvollstreckung. Nach seiner Einschätzung sind mehr als 75 Prozent der Menschen, die eine EFS verbüßen, nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten angemessen zu regeln. „Wer das kann, geht nicht ins Gefängnis“, sagt er, „Er kann Ratenzahlung vereinbaren oder beantragen, gemeinnützige Arbeit zu leisten.“

Um das auch beeinträchtigten Menschen zu ermöglichen, hatte Quast mit den anderen Vorstandmitgliedern der „Arche für Obdachlose“ (siehe Infotext) im Dezember 2021 einen Rechtshilfefonds gegründet. Eine Anwältin und ein Anwalt stehen wohnungslosen straffällig gewordenen Menschen zur Seite. „Sie handeln im Sinne des Gesetzgebers, der die einschneidende Freiheitsstrafe nur für schwerere Vergehen vorsieht“, sagt Quast. Denn die Strafe dürfe das Maß der Schuld nicht übersteigen. Doch die Geldstrafe werde nachträglich nur aufgrund von Armut oder psychischer Erkrankung als härtere Freiheitsstrafe vollstreckt.

Das zeigt auch Nicole Bögelein vom Institut für Kriminologie der Uni Köln in einer Arbeit zur EFS auf. 95,6 Prozent der von EFS Betroffenen hätten monatlich höchstens 1500 Euro, 58,5 Prozent davon nur maximal 750 Euro zur Verfügung, so Bögelein. Bei nahezu 70 Prozent wurde Alkoholmissbrauch konstatiert, 25 Prozent hatten eine psychiatrische Behandlung hinter sich, zehn Prozent einen Suizidversuch.

„Wegsperren nutzt nichts. Diese Menschen brauchen Hilfe. Sonst werden sie wieder auf die gleiche Weise straffällig“, so der Richter. Prävention von Straftaten und Resozialisierung – wesentliche Zwecke von Strafe – würden hier nicht durch Haft erreicht. Um wieder Fuß zu fassen, seien die Betroffenen auf Unterstützung angewiesen, und auf Wohnraum. „Nur so können sie eine Arbeit auf Dauer halten. Bei einem Leben auf der Straße ist das unmöglich“, sagt Quast. Statt einer Haft Sozialstunden zu leisten, sei ein Schritt in die richtige Richtung.

Die vermittelt in Köln der Sozialdienst Katholischer Männer (SKM). „Wir sehen, was die Betroffenen leisten können und suchen eine für sie passende Tätigkeit“, sagt Jörn Unterberger, Sachgebietsleiter beim SKM. „In den oft 30- bis 45-tägigen Einsätzen sind die Menschen in eine feste Tagestruktur eingebunden. Und sie erfahren erstmals seit langem Wertschätzung.“ Durch die Anbindung an den SKM kämen viele Betroffene teils mit Hilfsangeboten sozialer Träger in Kontakt und könnten – etwa durch eine Schuldnerberatung – erste Schritte machen, um ihre Situation zu verbessern.

Gemeinnützige Arbeit wäre für die Betroffenen deutlich sinnvoller
Ralf Peters, stellvertretender Leiter der Kölner JVA

Das sieht auch Ralf Peters, stellvertretender Leiter der Kölner JVA, so. „Bei den kurzen Haftzeiten von maximal drei Monaten sind unsere Resozialisierungs-Maßnahmen nicht durchführbar. Gemeinnützige Arbeit wäre für die Betroffenen deutlich sinnvoller. Und sie ist nicht mit so hohen Kosten für die Allgemeinheit verbunden. Hier müsste der Gesetzgeber Änderungen herbeiführen.“

Handlungsbedarf sieht auch das Bundes-Justizministerium, doch das in einer Gesetzesänderung von Februar 2024 aufgezeigte Prozedere ist für die von EFS betroffenen Menschen nur sehr bedingt geeignet. Verurteilte sollen „unmittelbar vor Ort“ bei der Vermeidung von EFS durch Sozialarbeitende unterstützt werden. Doch der Zahlungsbefehl und die Mahnungen werden schriftlich zugestellt, bei ausbleibender Zahlung erfolgt wieder schriftlich eine Ladung zum Haftantritt, gegen die binnen einer Woche Widerspruch erhoben werden müsste, sonst erfolgt ein Haftbefehl.

Spende reichen nicht für alle

Durch den spendenfinanzierten Rechtshilfefonds der „Arche“ kann nur ein kleiner Teil der Betroffenen unterstützt werden. Deshalb setzt sich Quast dafür ein, dass sich die Praxis ändert und EFS für Bagatelldelikte nicht mehr ausgesprochen werden. Doch damit ist er gescheitert. Vorerst.

Unterstützung hat dagegen das Kölner Polizeipräsidium signalisiert. Beamte, die bei Kontrollen eine per Haftbefehl gesuchte Person antreffen, müssen sie mit auf die Wache nehmen, und das ist bei psychisch beeinträchtigten Menschen oft sehr aufwendig. Danach sitzen sie in Justizvollzugsanstalten ein. „Ein Mensch in Ersatzhaft kostet den Steuerzahler 160 Euro – an jedem Tag“, sagt Quast. „Geholfen wird mit der Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe niemandem.“


Kosten für eine Ersatzfreiheitsstrafe

1101 Menschen verbüßten am 30. April 2024 in NRW eine Ersatzfreiheitsstrafe (EFS), 37 davon in der Justizvollzugsanstalt Köln in Ossendorf, zum Tagessatz von rund 160 Euro. An diesem Tag entstanden Kosten von 176.160 Euro.

Schwarzfahren: Mitte August 2023 beschloss der Kölner Rat, dass die KVB in Zukunft Personen, die beim Schwarzfahren erwischt werden, nicht mehr anzeigen. Eine solche Strafanzeige konnte eine Geldstrafe zur Folge haben, bei deren Nichtzahlung eine EFS verbüßt werden musste. Das erhöhte Beförderungsentgelt muss weiterhin gezahlt werden.

Tagessätze: Die Geldstrafe wird in Relation zum Einkommen verhängt. Der höchste Tagessatz ist 30.000 Euro, der Mindestsatz ist ein Euro. „Die gerichtliche Praxis ist oft nicht so, wie der Gesetzgeber das vorsieht. Da werden standardmäßig zehn Euro oder mehr genommen“, sagt Quast. Das ist bei Bürgergeldempfängern mehr als die Hälfte des Existenzminimums. Vor dem 31. Januar 2024 musste ein Tag pro Tagessatz verbüßt werden, heute ein Tag für zwei Sätze.

Arche für Obdachlose: In den Containern der spendenfinanzierten Initiative am Rand des Mülheimer Stadtgartens gibt es ein günstiges warmes Essen und Getränke, eine Sozialberatung, die Möglichkeit, zu duschen und Wäsche zu waschen sowie die Arztpraxis Caya, in der kostenlos auch Patienten behandelt werden, die nicht krankenversichert sind. (bos)