Seit über 20 Jahren lebt Linda Mai in Köln. Im Gespräch mit Bernd Imgrund spricht sie über ihre Heimat Ukraine, die Arbeit im Blau-Gelben Kreuz und über tiefschwarzen Humor.
Interview mit Kölnerin aus Ukraine„Köln ist die Stadt, die ich mir im Herzen immer gewünscht habe“
„In der Ukraine siezen wir uns, sprechen uns aber mit Vornamen an. Ich bin Linda“, sagt sie zur Begrüßung. „Alles klar, ich bin Bernd.“
Was haben Sie von Ihrem Kinderzimmer aus gesehen?
Einen Apfelbaum. Ich bin in einer sehr ländlichen Gegend aufgewachsen, in der meine Mama immer noch wohnt. Sie ist die einzige, die mir noch geblieben ist, deshalb will ich über den Ort nicht sprechen.
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Wie geht es Ihrer Mutter?
In der Ukraine fragt man nicht mehr, wie es einem geht. Man sagt, dass man am Leben ist. Meine Mutter ist, wie alle Ukrainer, sehr tough geworden.
Warum sind Sie in Köln?
Ich bin vor 20 Jahren wegen einer Liebe hier hergezogen, die zum Glück auseinanderging. Aber die Liebe zu Köln blieb. Inzwischen kann ich mir nicht vorstellen, noch einmal woanders zu wohnen. Köln ist die Stadt, die ich mir im Herzen immer gewünscht habe.
Sehen Sie Ähnlichkeiten zur ukrainischen Mentalität?
Der „Spaß an der Freude“ ist bei uns ähnlich groß. Die fünfjährige Tochter einer Verwandten feierte hier ihren ersten Karneval, ohne Deutsch zu können. Aber das „Trömmelche“ hat sie trotzdem schnell gelernt.
Sie haben Pharmazie studiert. Hilft Ihnen das bei der Arbeit fürs Blau-Gelbe Kreuz (BGK)?
Ich habe nie in dem Beruf gearbeitet. Eine zweiwöchige Probe in einer Apotheke fand ich furchtbar langweilig. Ich war eigentlich Kassiererin und durfte nichts anmischen. In der Ukraine wäre das anders gewesen.
Warum opfern Sie soviel Zeit für das BGK?
Ich tue das nicht für den Verein, sondern für die Menschen. Nach der Annexion der Krim 2014 habe ich aufgehört, meine Karriere zu verfolgen. Ich habe völlig umgedacht, mein Lebenspartner hat mich unterstützt, und dann haben wir diese Organisation zur Ukrainehilfe gegründet. Es ging nicht anders. Ich habe diese Aufgabe nicht gesucht, sie hat mich gefunden.
Ab 2014 und bis zur Invasion 2022 haben Sie im Rahmen des Programms „Ferien ohne Krieg“ Kinder nach Deutschland eingeladen.
Viele von ihnen waren Vollwaisen oder sogar verletzt. Sie haben jeweils zwei Wochen im Pilgerheim Weltersbach bei Leichlingen verbracht. Am Ende sollten sie aufschreiben, was sie sich für die Zukunft wünschen.
Ipads und Videospiele?
Im Gegenteil, ich habe die Briefe noch zuhause. Manche wollten die Spielplätze mitnehmen und später selbst welche bauen. Und die netten Kölner wollten sie auch einpacken.
Zwei Ihrer Hobbies seien Rotwein und gutes Essen, liest man im Internet. Kommen Sie da noch zu?
Oh Gott, das muss ich löschen! Ich kann nicht kochen, zuhause stand mein Mann am Herd. Dieses Lager hier in Raderberg haben wir seit Februar 2022. Seitdem essen wir vor allem Pizza.
Im März ist Ihr Mann gestorben, Detlef Gysan war Arzt am Severinsklösterchen und Mitgründer des BGK. Wie hat sich die Vereinsarbeit dadurch verändert?
Er fehlt uns. Wir sind noch einen Zacken tapferer geworden, und noch engagierter. Und er fehlt mir – als Stütze und Gesprächspartner. Früher haben wir ab 23 Uhr vor dem Einschlafen noch über den Tag gesprochen. Jetzt bleibe ich stattdessen länger im Lager.
Sie haben nie daran gedacht aufzuhören?
Nein! Das hier ist jetzt mein Leben. Detlef und ich waren ein so gutes Team, und das sind wir immer noch.
In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 begann der russische Angriff. Wie haben Sie die Nacht erlebt?
Wir wussten ja, was kam. Detlef und ich haben sofort alle Freunde und Helfer angerufen. Abends waren 22 Menschen in unserer Wohnung und haben erste Gegenmaßnahmen besprochen. Sehr schnell hatten wir zum Beispiel eine Halle, um Hilfsgüter sammeln zu können.
Werden Sie seitdem bedroht?
(lange Pause) Der Krieg findet nicht nur in der Ukraine, sondern überall statt. Mehr sage ich dazu nicht!
Wieso hat die Welt 2014 bei der Krimbesetzung nur zugesehen?
Auch 2008 in Georgien hat niemand reagiert. Man konnte alles sehen, alles erahnen, aber man schloss vor Putin die Augen. Erst 2022 haben alle verstanden, was er vorhat. Wir wissen nun: Der 70-jährige Frieden in Europa war keine Selbstverständlichkeit.
Sie sind hin und wieder vor Ort. Wie erleben Sie Ihr Land?
Die Ukraine wird weiblich. So viele tolle Menschen sind getötet worden, werden gerade jetzt getötet. In jedem befreiten Ort sehen wir, mit welcher menschenverachtenden Gewalt die Russen vorgegangen sind. Die Einwohner wurden gefoltert und ermordet. Auch Kinder werden vergewaltigt und nach Russland entführt. Wir sehen diese Bilder nicht im Fernsehen, aber das passiert. Tag für Tag.
Nicht alle Spuren können verwischt werden vor dem Rückzug.
Die russische Armee setzt mobile Krematorien ein, um Leichen und Folterzeugnisse unkenntlich zu machen. Deshalb müssen wir alle Dörfer wieder befreien, jeden einzelnen Zentimeter.
Sind Sie mit der Unterstützung durch die Stadt Köln zufrieden?
Wir haben uns über die Zeit immer mehr angenähert. Henriette Reker stand uns früh zur Seite, und dadurch kamen dann auch alle anderen. Ich sage mal so: Meckern kann man immer. Aber eigentlich haben wir dafür gar keine Zeit.
Lässt die Hilfsbereitschaft allmählich nach?
Sehen Sie sich um: Anfangs waren hier manchmal 160 Helfer gleichzeitig. Es gab viel unbürokratische Hilfe: Lebensmittel von Rewe, Transporter von Ford und so weiter. Wir haben kaum geschlafen. Inzwischen kommen weniger Helfer, und auch auf dem Spendenkonto landet nicht mehr soviel wie anfangs.
Was befürchten Sie?
Ich muss positiv denken. Wir alle spüren die Anerkennung für unsere Arbeit. Und die Menschen wissen, dass das nicht nur unser Krieg ist, sondern es um unser aller Freiheit und Demokratie geht. Jeder muss sich die Frage stellen. Was wird aus Europa, wenn die Ukraine verliert?
Wie hat die ehrenamtliche Arbeit der letzten neun Jahre Sie persönlich verändert?
Früher war mein Äußeres sehr gestylt, das ist inzwischen vorbei. Meine Fingernägel trage ich kurz, das ist besser fürs Pakete packen. Sport mache ich auch nicht mehr so häufig. Dafür habe ich mir meinen Humor bewahrt.
Die Ukrainer auch?
Der Humor der Ukrainer ist sehr, sehr schwarz geworden. Man sagt sich: Die Russen wollen uns vernichten, sie zerstören unsere Infrastruktur. Aber wenn wir kein Licht, kein Fernsehen und kein Internet mehr haben, dann wird es neun Monate später noch viel mehr Ukrainer geben. (lacht)
Wie bewahren Sie sich, jenseits allen Elends, Ihren Kampfgeist?
Ich muss kämpfen – trotz aller Schwierigkeiten. Ich fahre in die Ukraine und sehe die vielen Toten. Aber ich sehe auch die tapferen Lebenden. Als ich letztens da war und Raketenalarm ausgelöst wurde, sah ich 50 kleine Kinder ganz brav, Hand in Hand in einen düsteren, tiefen Keller gehen. Ich war die einzige, die in dem Moment Tränen in den Augen hatte. Wir alle sind davon überzeugt, dass wir diesen Krieg gewinnen. Wir müssen ihn gewinnen, und wir werden ihn gewinnen.
Zur Person
Linda Mai wurde 1975 im Westen der Ukraine geboren. Seit 2001 lebt sie in Köln. Nach der Schule studierte sie Pharmazie und kam in der Wendezeit erstmals nach Deutschland. Mit Kellnern finanzierte sie ihr Abendstudium „Kommunikation und Marketing“. Nach einigen Jahren bei einem Buchverlag wechselte sie zu einem Pharmaunternehmen, für das sie heute noch halbtags arbeitet. Statt dort Karriere zu machen, gründete sie nach der Krim-Annexion 2014 mit ihrem Mann Detlef Gysan (1956 bis 2023) das Blau-Gelbe Kreuz (BGK).
Der Verein für Ukraine-Hilfe wurde schnell groß, bekam viel Anerkennung, aber inzwischen erlahmt die Hilfsbereitschaft ein wenig. Sach- und Geldspenden sind weiterhin erwünscht und notwendig. Am Sonntag, den 20. August, findet am Schokoladenmuseum wie bereits im letzten Jahr ein Benefizfestival für ukrainische Kunst und Kultur statt. Am „Ukraine-Tag“ werden an zahlreichen Ständen traditionelles Handwerk und ukrainische Spezialitäten angeboten. Zudem gibt es ein vielfältiges Konzert- und Bühnenprogramm. Veranstaltet wird der „Ukraine-Tag“ vom Blau-Gelben Kreuz. Kontakt: www.bgk-verein.de Spenden: Kreissparkasse Köln: DE78 3705 0299 0000 4763 46