Neue MessmethodenWachkoma-Diagnosen sind oft falsch
Köln – Es ist eine Horrorvorstellung. Ein Mensch verunglückt und schädigt dabei sein Gehirn so schwer, dass er ins Wachkoma fällt. Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW) nennen Mediziner diesen Zustand, der im Schattenreich zwischen Koma und Bewusstsein liegt. Betroffene haben zwar die Augen geöffnet, ihr Hirn arbeitet aber nur noch im Modus des vegetativen Nervensystems - höhere kognitive Funktionen sind stillgelegt. In Deutschland gibt es der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie (DGKN) zufolge 1500 bis 5000 Wachkoma-Patienten. Deren Angehörige dürften einige Studien der vergangenen Jahre verunsichert haben.
Denn die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass Wachkoma-Diagnosen oft fehlerhaft sind. Demnach sind rund 40 Prozent aller Wachkoma-Patienten eigentlich bei minimalem Bewusstsein, ohne dass Angehörige und Ärzte dies erkennen. Ihren Zustand nennt man auch Syndrom des minimalen Bewusstseins (SMB). Diese Patienten haben bisweilen immer noch flüchtige Spuren von Bewusstsein (siehe Kasten).
Studie mit 906 Patienten
Jetzt haben Forscher der Universität München und des Therapiezentrums Burgau 20 Studien mit 906 Patienten ausgewertet, die sich entweder im Wachkoma befanden oder ein SMB aufwiesen. Ihre gerade im "Deutschen Ärzteblatt" veröffentlichte Analyse zeigt, wie technische Methoden Fehldiagnosen in Zukunft verhindern könnten. Dass es Handlungsbedarf gibt, davon sind die Forscher überzeugt. "Wir vermuten, dass viele Menschen, die für Wachkoma-Patienten gehalten werden, unter der fehlenden persönlichen Ansprache leiden", sagt Studien-Autor Andreas Bender, Chefarzt des eines Therapiezentrums Burgau, einer Klinik für Menschen mit schwerer Hirnschädigung. "Die Ärzte versuchen nur noch das Leiden des vermeintlichen Wachkoma-Patienten zu reduzieren, anstatt sämtliche therapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen." Bender vermutet, dass sich die Zahl der Fehldiagnosen mit modernen Messmethoden reduzieren ließe. So könne man die Hirnaktivität etwa mittels funktioneller Magnetresonanztomografie oder quantitativer Elektroenzephalographie (qEEG) messen. Beide Techniken zeigen, ob sich ein Patient bestimmte Bewegungen, etwa Tennisspielen, vorstellen kann, wenn man ihn dazu auffordert. "Mit dem derzeitigen Goldstandard für die Wachkoma-Diagnose lassen sich solche Bewegungsvorstellungen nicht nachweisen", kritisiert Professor Andreas Straube vom Klinikum der Universität München, Ko-Autor der Studie. Denn dafür sei es erforderlich, dass sich Patienten tatsächlich bewegen.
Alles zum Thema Universitätsklinikum Köln
- Neues Wohnheim In Lindenthal werden 199 Mikro-Apartments für die Uniklinik Köln gebaut
- Polizei in NRW Gutachter sieht bei Taser „verhältnismäßig geringes Risiko“
- Mehr Corona-Fälle Studie erfasst die Gesundheitsdaten von Kölnerinnen und Kölnern - Teilnehmer gesucht
- Uniklinik Köln Eine Handvoll Leben - Was extreme Frühchen brauchen
- Bundesgesundheitsminister zu Besuch Lauterbach wirbt in Kölner Uniklinik für Krankenhausreform
- Pilotprojekt für drei Wochen Hier haben die Azubis in der Kölner Uniklinik das Sagen
- Rekord bei Stadtradeln-Aktion Kölner Teams legen 1,9 Millionen Fahrrad-Kilometer zurück
Leidet der Patient mit Bewusstsein?
Werden also viele schwer hirngeschädigte Patienten unzureichend behandelt? Auch Christian Dohmen, Leiter der Neurologischen Intensivmedizin an der Uniklinik Köln, fürchtet, dass viele Wachkoma-Diagnosen falsch gestellt sind. Vor allem, wenn kein Neurologe beteiligt sei, könne ein Zustand des minimalen Bewusstseins übersehen werden - zumal die Übergänge zwischen beiden Zuständen fließend ist. Auch Dohmen plädiert dafür, vielversprechende Messmethoden wie qEEG häufiger einzusetzen.
In der Bewertung der Folgen ist der Kölner Neurologe allerdings vorsichtiger. "Tatsächlich kann eine Wachkoma-Diagnose zur Folge haben, dass ein Patient ins Pflegeheim überwiesen wird, statt weiter Rehabilitation zu bekommen." Bei jungen Patienten mit besseren Genesungschancen könne der Verzicht auf eine Therapie innerhalb der ersten Monate sogar "bedeutsam" sein, weil sich ihr Zustand mit Reha womöglich bessern würde. Allerdings mache der Befund, dass ein Patient "Spuren von Bewusstsein" zeigt, nicht unbedingt nur Hoffnung: "Das kann auch bedeuten, dass der Patient unter seinem Zustand leidet."
Auch Professor Frank Erbguth, Chefarzt der Klinik für Neurologie am Klinikum Nürnberg, warnt davor, den SMB-Zustand zu überschätzen. "Wenn im Gehirn von Patienten Aktivierung auftritt, bedeutet das noch nicht zwingend, dass ein Bewusstsein im Sinne von komplexer Gedächtnistätigkeit, Selbst-Bewusstheit oder Lernfähigkeit vorhanden ist", sagt der Experte der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
Und ob die Diagnose minimalen Bewusstseins bei Patienten, die schon viele Monate in diesem Zustand sind, die Chancen auf eine Genesung erhöhe, darüber lasse sich bei der bisherigen Studienlage nur spekulieren, sagt Dohmen. So hätten Ärzte etwa beim ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon erst spät ein SMB diagnostiziert, nachdem der Hochbetagte bereits jahrelang als Wachkoma-Patient versorgt worden war. "Das hat zwar seinen Angehörigen neue Hoffnung gegeben, aber an der Prognose nichts geändert: Scharon ist kurz nach der Diagnose verstorben."
Patientenverfügung ist wichtig
Das Beispiel zeigt auch: Diagnosen hinsichtlich des Bewusstseinszustands sind nicht in Stein gemeißelt. "Wichtig wäre, die Kranken regelmäßig erneut zu untersuchen, um positive Anzeichen nicht zu übersehen", sagt auch DKGN-Experte Bender. Allerdings würden viele Kranke, die zu Hause oder in Heimen gepflegt werden, nie wieder einer neurologischen Untersuchung unterzogen, die eine Besserung ihres Zustands aufdecken könnte.
Im Hinblick auf solche Krankheiten sei es wichtig, für den Fall der Fälle eine Patientenverfügung zu haben - oder zumindest mit Angehörigen über das Thema Wachkoma und minimaler Bewusstseinszustand zu reden, rät Christian Dohmen. Ärzte seien in diesem Fall oft verpflichtet, die Maximaltherapie aufrechtzuerhalten. "Wenn Angehörige sagen, darüber habe man nie gesprochen, können wir nicht wissen, ob der Patient in diesem Zustand eine Weiterbehandlung hätte haben wollen."
Dass gerade der Zustand minimalen Bewusstseins von vielen Patientenverfügungen nicht erfasst wird, darauf hat kürzlich die DGN hingewiesen. Häufig stehe in Mustervorlagen, dass eine Weiterbehandlung nicht gewünscht wird, wenn "infolge einer Gehirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist". Das sei zwar präzise formuliert, lasse aber den Fall eines wiedererlangten minimalen Bewusstseins außer Acht, kritisiert die DGN. Hier müssten die Standardtexte "deutlich differenzierter formuliert werden" (siehe Interview).