Melanies Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. "Ich weiß nicht, wann das angefangen hat", flüstert sie. Sie schaut auf ihre verschränkten Hände. Weiß treten die Knöchel hervor.
Melanie (14) hat Angst. Sie hat Angst, sich im Unterricht vor aller Augen zu Wort zu melden. Sie hat Angst, beim Bäcker ein Teilchen zu kaufen, und sie hat Angst, die Fragen einer für sie fremden Person zu beantworten. Wovor sie Angst hat? "Ich weiß es nicht", sagt Melanie und knetet ihre Hände. Ihr "Aufregungsthermometer" steht in diesem Moment bei 40, ihr "Angstthermometer" bei 30 Grad.
Schüchternheit nennt man landläufig das Phänomen kindlichen Fremdelns, das mit Schweißausbrüchen, feuchten Händen und Herzrasen einhergeht. Soziale Angst, nennt es die Diplom-Heilpädagogin Stefanie Cremer, die Melanie an diesem Spätnachmittag im "Institut Köln der Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Kinderpsychologie" gegenübersitzt. "Soziale Angst geht weit über Schüchternheit hinaus", sagt sie. "Der Leidensdruck der Kinder ist groß und beeinträchtigt ihre Lebensqualität erheblich." Acht lange Sitzungen liegen bereits hinter der Therapeutin und ihrer Patientin, in denen beide gemeinsam versucht haben, Melanies "angstauslösende Gedanken zu erkennen und sozialkompetentes Verhalten einzuüben". Weitere acht Therapiestunden liegen vor ihnen.
Folgende Checkliste kann Eltern helfen zu entscheiden, ob ihr Kind eventuell sozial ängstlich ist:
Hat Ihr Kind Angst, wenn es mit wenig bekannten Gleichaltrigen zusammen ist, und versucht es daher, diese Situationen zu vermeiden - wie Geburtstagsfeiern, Sportvereine, Klassenfahrten?
Hat Ihr Kind Angst, wenn es mit fremden oder wenig vertrauten Erwachsenen zusammen ist und vermeidet es diese Situationen daher? Zum Beispiel Einkaufen beim Bäcker, mit dem Kellner im Restaurant sprechen, wenn Freunde der Eltern da sind, zu Hause ans Telefon gehen.
Hat Ihr Kind allgemein wenig Kontakt mit Gleichaltrigen oder fällt es ihm schwer, auf Gleichaltrige zuzugehen? Hat es wenig Freunde, ruft es Klassenkameraden nicht von sich aus an, um sich zu verabreden oder die Mitschüler nach den Hausaufgaben zu fragen?
Leidet Ihr Kind in neuen Situationen und spricht dann erst mal gar nicht oder sehr leise, zieht es sich zurück oder weint - bei Familienfeiern, im Kontakt mit fremden Erwachsenen, im Urlaub?
Hat ihr Kind Angst, in Leistungssituationen zu versagen, und macht es sich Gedanken darüber, dass es etwas Falsches sagen oder tun könnte? Zum Beispiel bei Referaten, mündlicher Mitarbeit im Unterricht oder Theateraufführungen.
Melanie, die in Köln ein Gymnasium besucht und einen anderen Namen hat, ist nicht die Einzige, die versucht, ihre extreme Zurückhaltung mit professioneller Hilfe in den Griff zu bekommen. 100 Kinder und Jugendliche zwischen acht und 14 Jahren nehmen derzeit an einer aufwendigen Studie der Uniklinik Köln teil. Das Projekt trägt den Titel "Therapie für Kinder und Jugendliche mit sozialen Ängsten" und umfasst zwei unterschiedliche Ansätze, deren Wirksamkeit nach Beendigung der 100 Einzeltherapien miteinander verglichen werden soll. Ziel ist es, das Selbstbewusstsein der jungen Probanden zu stärken beziehungsweise sie durch das gezielte Training von Alltagssituationen langfristig von ihrer lähmenden Angst vor anderen Menschen zu befreien.
Am Ende war die Angst weg
"Wie oft hast du dich in der vergangenen Woche in der Schule gemeldet?", fragt Stefanie Cremer behutsam. Melanie überlegt. Das lange Haar fällt ihr wie ein Vorhang vor das Gesicht. Sie weiß es nicht. "Wie schwer ist es dir gefallen, deine Meinung zu vertreten?" "Ging so", sagt Melanie. "Wir hatten eine Meinungsrunde zu einem bestimmten Thema." - "Hattest du Angst?" - "Ein bisschen. Am Anfang. Aber am Ende der Stunde war die Angst weg." Stefanie Cremer nickt zufrieden. Sätze wie diese sind ein großer Erfolg. "Melanie hat sich schon einiges an selbstsicherem Auftreten erarbeitet", sagt sie. Die 14-Jährige gehört zu der Gruppe, die ihre Ängste durch praktisches Training in den Griff bekommen soll. Sie hat - zunächst im Schutz des Therapieraums, später in der realen Welt - geübt, beim Friseur nach dem Preis für einen Haarschnitt zu fragen. In den folgenden Therapiestunden soll sie trainieren, "sich komplexeren Situationen zu stellen und deutlich zu sagen, wenn ihr etwas nicht passt".
"Meine Lehrer haben bestätigt, dass ich mich mehr am Unterricht beteilige als früher", meldet sich Melanie zu Wort. Sie hat den Blick gehoben, ihre Stimme ist fester geworden. Am Ende der Stunde wird sie auf die Frage der Reporterin, ob man sie für diesen Bericht fotografieren dürfe, mit einem energischen "Nein" antworten.
Vor allem der Eintritt in die Schulzeit sei eine kritische Phase für sozial ängstliche Kinder, sagt Stefanie Cremer. "In der Schule werden sie zum ersten Mal in ihrem Leben bewertet. Sie werden zum einen sozial bewertet, und sie erhalten Noten für ihre schulischen Leistungen." Nicht jeder kleine Mensch wird damit fertig.
Paul (12) zum Beispiel gehört zu jenen, die an dem Bewertungssystem Schule scheiterten. Auch er möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. "Ich bin hier wegen dem Melden", sagt er. "Auch mich mit Freunden zu verabreden hat nur schwer funktioniert. Mittlerweile geht es aber schon besser." Er fährt sich mit der Hand durch das kurz geschnittene, dunkle Haar. Noch vor wenigen Monaten war es fast schulterlang, ein dicker Pony verdeckte die Augen. "Man hat fast nichts von seinem Gesicht gesehen", sagt Stefanie Cremer und deutet den Gang zum Friseur als gutes Zeichen.
Bauchschmerzen vor Unterrichtsbeginn
Spätestens als Paul von der Grundschule aufs Gymnasium wechselte, nahm seine Angst vor der Welt überhand. "Er hat wie versteinert dagesessen und war im Unterricht völlig weggetreten", erinnert sich Marion Schreiner (Name geändert). Oft klagte der Sohn über Bauchschmerzen, seine Fehlzeiten im Unterricht häuften sich. "Ich war wirklich krank", beteuert Paul. "Keine Ahnung, was ich hatte, aber ich habe nicht geschwänzt."
Die Schulpsychologin war überfordert mit dem schweigsamen Kind - vielleicht, mutmaßt Marion Schreiner, "stimmte auch die Chemie nicht". Seit Oktober des vergangenen Jahres nimmt Paul an einem Trainingsprogramm teil, dessen Schwerpunkt auf "der Förderung der Achtsamkeit und des Wohlbefindens" liegt. Das heißt: Vorhandene Ressourcen sollen genutzt, das Selbstwertgefühl der Probanden gesteigert werden.
"Wir machen praktische Übungen und probieren was aus", umreißt Paul das Programm. "Es geht darum, dass ich meine Stärken finde und herausfinde, was ich verbessern kann." Auf zwei Blättern hat er anfangs notiert, was er gut und was er weniger gut kann. Seitdem weiß er, dass er ein kreativer Mensch ist, der schnell spontane Freundschaften schließt. "Ich bin künstlerisch begabt und verstehe Sachen schnell. Ich kann sie schnell umsetzen, auch wenn das manchmal nicht ganz richtig ist."
Heute hat er mit Stefanie Cremer überlegt, wer für ihn im Alltag ein Vorbild, ein "Superheld" sein könnte. Pauls Wahl ist auf Chuck Norris gefallen, den amerikanischen Schauspieler und Kampfsportler. "Weil der sehr mutig und stark ist." So will Paul auch werden. Mutig und stark. Er und Melanie sind bereits auf einem guten Weg dahin.
Klinische Kinderpsychologie:Klinikum der Universität zu Köln02 21/478 78 71
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