CDU-Politiker Norbert Röttgen glaubt nicht, dass Deutschland für Krisen gerüstet ist. Rena Lehmann hat mit ihm gesprochen.
Interview mit Norbert Röttgen„Nicht die Zeiten sind unklar – Deutschland ist es“
Am Mittwoch stellt Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinen Ampel-Partnern die erste Nationale Sicherheitsstrategie vor. Deutschland soll künftig besser auf nationale Katastrophen vorbereitet sein, aber auch seine Rolle in der Welt definieren und seine Außenpolitik daran ausrichten. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen erklärt im Interview mit Rena Lehmann, warum er nicht an einen großen Wurf glaubt.
Herr Röttgen, die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung hat auf sich warten lassen. Jetzt ist sie fertig. Was erwarten Sie?
Ich erwarte von der Nationalen Sicherheitsstrategie keinen großen Wurf mehr. Man wird sich auf Lagebeschreibungen und den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben. Auf die künftige Außenpolitik wird das keinen merklichen Einfluss haben.
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Warum so pessimistisch?
In der Bundesregierung ist man sich in wichtigen Außen- und Sicherheitsfragen uneinig. Besonders deutlich wird das bei der Frage, wie wir künftig mit China umgehen.
Was könnte eine Strategie ändern, die wirklich eine wäre?
Jeder weiß und sieht, dass wir in einer Zeit dramatischer geopolitischer Veränderungen leben. Gelingt es uns, den Krieg aus Europa wieder zu verbannen? Wie soll nach dem Krieg Sicherheit vor Russland organisiert werden? Und wie können wir gegenüber China zu einer Position der Stärke finden, die nicht auf Konfrontation aus ist, aber selbstbewusst europäische Interessen verfolgt? Das sind nur einige der drängendsten Fragen, gegenüber denen es keinen strategischen Ansatz gibt. Das liegt zum einen daran, dass wir als Deutsche keine Idee davon haben, wer wir in dieser geopolitisch konfliktreichen Welt eigentlich sein wollen. Zum anderen fehlt es uns an den Fähigkeiten und am Willen, eine strategische Außenpolitik zu formulieren, die nicht nur auf Ereignisse reagiert, sondern proaktiv Interessen formuliert und diese verfolgt.
Woran machen Sie das fest?
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gab es in Deutschland ein mühsames Anpassen an die neue Realität des Krieges in Europa. Wir tasten uns vor, denken aber nicht voraus. Schon jetzt müsste man überlegen, wie es nach dem Krieg in der Ukraine weitergeht. Soll die Ukraine in die Nato? Wie könnte eine neue deutsche Ostpolitik aussehen? Und wie verhalten wir uns gegenüber Ländern wie Moldau und Georgien, die sich von Russland bedroht fühlen und in die EU streben?
Sind die Zeiten nicht zu unklar, um sich in diesen Fragen festzulegen?
Nicht die Zeiten sind unklar – Deutschland ist es. Das hat zur Folge, dass es auch weiterhin ein Führungsvakuum in Europa geben wird. In Teilen Europas ist die Enttäuschung über Deutschlands mangelnde Initiative groß. Denn ohne einen klaren deutschen Kurs kann auch Europa seine Rolle in der Welt nicht finden und festigen.
Die Ampel-Regierung ist erst seit eineinhalb Jahren im Amt. Warum hat die Union keine Strategie erarbeitet?
Das Problem ist in der Tat nicht erst mit der Ampel-Koalition entstanden. Wir leben seit Längerem schon in einer Welt der Mega-Veränderungen, auf die auch vergangene Regierungen immer nur reagiert haben, statt vorauszudenken und zu gestalten. Aber dieser Krieg ist eine so dramatische Zäsur: Wer jetzt nicht wach wird, dem ist nicht mehr zu helfen. Es geht um wirklich Fundamentales, nämlich, ob wir in Europa weiter in Frieden und Freiheit leben werden. Aber anstatt die Ukraine mit aller Entschlossenheit zu unterstützen, führen wir in Deutschland einen Rosenkrieg über ein Heizungsgesetz, von dem man im Grunde jetzt schon weiß, dass am Ende mal wieder der kleinste gemeinsame Nenner bestehen wird.
Ist es nicht normal, dass der Politik das aktuelle Tagesgeschehen näher ist als die abstrakte Strategie?
Nein, dieses Versäumnis ist nicht zu entschuldigen. Es liegt meines Erachtens an den handelnden Personen in diesem Land, dass Deutschland bisher keinen außenpolitischen Kompass entwickelt hat. Man kann jedenfalls nicht bestreiten, dass sowohl Konrad Adenauer als auch Helmut Schmidt große strategische Analysten waren – und auch strategisch handelten. Heute haben wir da eine sichtbare Lücke.
Sie könnten als Opposition doch in diese Lücke stoßen?
Selbstverständlich. Ich nehme uns nicht aus. Opposition ist Vorbereitung auf Regierung – da haben wir noch einiges zu tun.
Nationale Sicherheitsstrategie
Die Ampel-Regierung hatte im Koalitionsvertrag angekündigt, im ersten Regierungsjahr eine „umfassende Nationale Sicherheitsstrategie“ vorzulegen. Ursprünglich war die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar als Veröffentlichungstermin ins Auge gefasst worden. Das Papier hatte sich aber wegen interner Streitereien immer wieder verzögert. Die Unionsfraktion im Bundestag hatte dies mehrfach kritisiert. Nach monatelangem Ringen liegt nun eine Einigung vor, die Kanzler Scholz und vier seiner Minister heute vorstellen wollen. Bereits bekannt ist, dass kein Nationaler Sicherheitsrat gegründet werden soll, der außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen koordiniert und in Krisenlagen die operative Steuerung übernimmt. (dpa)