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Interview zu Pflegekräften aus dem Ausland„Die Integration muss über den Beruf hinausgehen“

Lesezeit 8 Minuten
Eine Pflegekraft geht in einem Pflegeheim mit einer älteren Dame über einen Korridor.

Der Bedarf an Pflegerinnen und Pflegern ist hoch – in Kliniken und auch in Pflegeeinrichtungen.(Symbolbild)

Dauerhafte Integration ausländischer Fachkräfte auf dem Pflegemarkt braucht Information und Geduld, sagt Dr. Meiko Merda.

Dr. Meiko Merda kümmert sich für das in Düsseldorf gegründete Start-up „medicruiter“ um die Integration von internationalen Pflegekräften. Mit Johanna Tüntsch sprach er darüber, was wichtig ist, damit Menschen, die aus anderen Kontinenten nach Deutschland kommen, auch gerne hier bleiben.

Herr Dr. Merda, teilweise gehen Fachkräfte, die nach Deutschland gekommen sind, bereits nach wenigen Jahren wieder zurück oder ziehen weiter. Medicruiter verfolgt einen Ansatz, der es erleichtern soll, in Deutschland Fuß zu fassen. Wo setzt Ihr Konzept an?

Wir schauen zum Beispiel auf die kulturellen Besonderheiten. Wir haben 15 verschiedene Module entwickelt, mit denen wir die Menschen darauf vorbereiten, was in Deutschland auf sie zukommt. Gleichzeitig muss man sich die einzelnen Länder ansehen, aus denen die Bewerberinnen und Bewerber kommen. In Deutschland ist es normal, Bedürfnisse zu äußern und direktes Feedback zu geben. Wer aber gewohnt ist, dass man Vorgesetzte nicht hinterfragt, hat vielleicht zunächst auch Hemmungen zu sagen, dass er etwas nicht verstanden hat. Im Krankenhaus kann aber genau das sehr wichtig sein.

Auf welche anderen kulturellen Besonderheiten bereiten Sie die Fachkräfte vor?

Pünktlichkeit, zum Beispiel. Auch das Familienverständnis ist anders, als es viele Bewerberinnen und Bewerber gewohnt sind.

Ist das nicht ein Klischee?

Nein. In vielen anderen Ländern denkt man über Pünktlichkeit tatsächlich anders. Beruflich sind die Menschen in anderen Ländern auch pünktlich, aber im Privaten ist es manchmal nicht so wichtig, ob man zu einer Verabredung um drei oder um fünf kommt. Wenn man sich dann hier in Deutschland einen Freundeskreis aufbauen möchte, führt es zu Problemen, wenn man zu einer Verabredung viel später kommt als vom anderen erwartet.

Der ganze Beziehungsaufbau ist hier anders. Wir sind eine sehr individualistische Gesellschaft. Wir trennen Job und Privatleben. Wenn wir dagegen etwa auf Mexikaner oder Philippinen blicken: Die kennen diese Trennung weniger. Es hilft, wenn man weiß: Viele Deutsche sind anfangs eher distanziert. Hier lächelt man sich auf der Straße nicht unbedingt an. Wenn ich das weiß, verletzt es mich weniger, weil ich einordnen kann, dass ein solches Verhalten nicht persönlich gemeint ist.

Sie haben das Familienverständnis angesprochen. Welche Rolle spielt das?

Viele unserer Pflegekräfte sind aus ihrer Heimat gewohnt, dass die Angehörigen viel mehr in die Versorgung eingebunden sind, beispielsweise die Grundpflege übernehmen, wenn jemand im Krankenhaus liegt.

Dort ist 24 Stunden am Tag jemand aus der Familie am Bett. Wenn sie dann sehen, wie wir hier mit den Älteren umgehen, kann es zu Missverständnissen kommen. Hier ist es normal, für einen älteren Menschen im Pflegeheim zwei kurze Besuche in der Woche einzuplanen. Auf Menschen, die aus kollektivistischen Gesellschaften kommen, kann das wie ein Abschieben wirken, wenn sie nicht darauf vorbereitet werden. Informationen helfen, Geduld füreinander aufzubringen – und zwar beidseitig.

Werden die hiesigen Pflegekräfte denn auch vorbereitet auf ihre neuen Kolleginnen und Kollegen?

Ja, das ist uns sogar sehr wichtig! Gute Information hilft beiden Seiten. Wir möchten nicht nur die internationalen Kräfte mitnehmen, sondern auch die Teams hier vor Ort. Es ist wichtig, dass sie wissen: Wer kommt da überhaupt? Was haben die neuen Kolleginnen und Kollegen in Kauf genommen, um hier auf der Station zu sein? Es ist ein Problem, wenn mir einfach jemand zur Seite gestellt wird, über den ich nichts weiß, dem ich aber geduldig alles zeigen und erklären soll.

Ich lasse mich ganz anders auf neue Kollegen ein, wenn ich weiß: „Die sind hier, weil sie wirklich helfen wollen. Sie sind wertvoll für das Team.“ Zum Beispiel sind unsere internationalen Kräfte fast ausnahmslos akademisch ausgebildet.

Nun wird ja in Deutschland zwischen den Kompetenzen der Mediziner und denen der Pflegerinnen und Pfleger sehr stark differenziert. Führt das nicht zu Frust bei Pflegekräften, die studiert haben?

Es gibt ja auch hier die Tendenz, die Pflege stärker zu akademisieren. Aber – ja, das ist zunächst schon ein wesentlicher Unterschied. Unsere internationalen Pflegekräfte machen in ihren Heimatländern in der Regel keine Grundpflege, das übernehmen dort oft die Angehörigen. Hier hingegen machen Aufgaben der Grundpflege vielleicht 30 bis 70 Prozent ihrer Arbeitszeit aus. In der Vergangenheit wurden viele darüber nicht informiert.

Natürlich gab es dann einige, die gesagt haben: „Dafür bin ich nicht gekommen. Das ist nicht der Beruf, den ich gelernt habe.“ Deswegen thematisieren wir diesen Punkt im Vorfeld sehr klar. Unsere Pflegekräfte sind darauf eingestellt.

Welche Motive bewegen die Bewerber, die sich für ein Leben in Deutschland interessieren?

Dazu begleitet die Technische Hochschule Würzburg-Schweinfurt unser Programm wissenschaftlich in allen Phasen. Finanzielle Aspekte sind oft nicht der ausschlaggebende Punkt, sondern die persönliche und berufliche Weiterentwicklung.

Das müssten Sie mir bitte erklären. Warum ist es eine berufliche Weiterentwicklung, wenn das Jobprofil der Pflege in den Herkunftsländern doch in der Regel höher qualifizierte Aufgaben umfasst?

Wenn Sie sich Bilder von einem philippinischen Krankenhaus ansehen – das kann schon anders aussehen als hier. Es gibt Länder, in denen liegen die Patienten in Sälen mit 70 bis 80 Personen, hier hat die Hälfte der Patienten Einzelzimmer. Es gibt eine gute technische Ausstattung. Was für die Arbeit gebraucht wird, wird gestellt, man muss nicht etwa selbst Handschuhe und Spritzen zur Arbeit mitbringen. Wenn man sich das vergegenwärtigt, wird klar: Ein deutsches Altenheim oder Krankenhaus kann ein attraktives Arbeitsumfeld sein.

Ich lasse mich ganz anders auf neue Kollegen ein, wenn ich weiß: „Die sind hier, weil sie wirklich helfen wollen. Sie sind wertvoll für das Team.“
Dr. Meiko Merda, Medicruiter

Für viele spielt auch eine Rolle, dass das Leben in ihrer Heimat nicht sicher ist. In Mexiko oder Kolumbien können Menschen einfach verschwinden. Von einem Leben hier in Deutschland erhoffen viele sich, dass sie selbst und ihre Kinder ohne Todesangst auf die Straße gehen können.

Jetzt haben Sie Kinder angesprochen. Vermitteln Sie auch Pflegekräfte, die ihre Familie mitbringen – und inwiefern spielt das eine Rolle für die Integration?

Wir vermitteln beides, Alleinstehende und Menschen mit Familie. Je nach Situation ist das eine oder das andere leichter. In diesem Zusammenhang ist auch Wohnraum ein Thema. Wir tragen gemeinsam mit den Arbeitgebern dafür Sorge, dass die Pflegekräfte am Anfang eine erste Unterkunft haben, die mit allem Wichtigen ausgestattet ist. Das muss auch sein. Aber manche unserer Kunden können beispielsweise nur ein Zimmer im Schwesternwohnheim zur Verfügung stellen und können daher nur weibliche Alleinstehende aufnehmen.

Andererseits: Wenn ich meine Familie mitbringen konnte und mein neuer Arbeitgeber mir vielleicht auch noch geholfen hat, einen Kita-Platz zu finden, gehe ich auch eher nicht gleich beim ersten Gegenwind.

Haben die neuen Fachkräfte nach ihrer Ankunft in Deutschland weiterhin Hilfe bei der Integration?

Ja, das ist uns sogar sehr wichtig. Medicruiter unterstützt die Pflegekräfte weiter und wir setzen feste Ansprechpartner in den Einrichtungen voraus, die nichts anderes tun, als sich um die neuen Pflegekräfte zu kümmern. Die Integration muss über den Beruf hinausgehen, mindestens am Anfang auch in die Freizeit hinein. Das fängt schon mit der Abholung am Flughafen an: Wenn ich mich dort allein in die Bahn setzen muss, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen.


Maßnahmen gegen den Pflegenotstand in Deutschland

Der aktuelle Personalmangel ist eines der drängendsten Themen im Gesundheitswesen, da mit der steigenden Lebenserwartung eine höhere Zahl an Pflegebedürftigen einhergeht. Dem Deutschen Pflegerat zufolge gibt es keine einheitlichen Zahlen, aber gleich mehrere Hochrechnungen, die von 130 000 bis 380 000 fehlenden Pflegekräften in der Zeit bis 2040 ausgehen. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) sagte im September in Köln: „Personalmangel wird ein ständiger Begleiter der Pflege bleiben, wahrscheinlich in einer ganzen Generation.“

Verschiedene Unternehmen und Initiativen setzen deswegen darauf, medizinische Fachkräfte im Ausland zu finden und für eine Karriere in Deutschland zu begeistern. Das ist jedoch lediglich ein erster Schritt: Nur wer dauerhaft bleibt, kann die Personalsituation auch dauerhaft entlasten.

Eine Befragung, die das Tübinger Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung im Juli vorlegte, deutet darauf hin, dass es nicht ausreicht, Fachpersonal nach Deutschland zu holen. Im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit befragte das Institut 1900 Menschen, die zur Arbeit nach Deutschland kamen, aber nicht geblieben sind. Zwei von drei hochqualifizierten Fachkräften berichteten davon, Diskriminierung erfahren zu haben. Auch aufenthaltsrechtliche Fragen führten zum Weggang aus Deutschland. Die nicht repräsentative Befragung ist die Vorstudie zu einer größeren Untersuchung.

Die medicruiter GmbH, ein 2020 in Düsseldorf gegründetes Unternehmen, das inzwischen in Leipzig ansässig ist, konzentriert sich auf diese Herausforderung: Fachkräfte nicht nur ins Land zu holen, sondern sie auch umfassend in das Leben in Deutschland zu integrieren. Die Firma vermittelt nach ganz Deutschland Pflegefachpersonal, überwiegend aus Lateinamerika und von den Philippinen. Aktuell sind etwa 500 Personen im Programm, die in ihrer Heimat Deutsch lernen und sich auf ein Leben hier vorbereiten. Das Unternehmen rechnet damit, jährlich mehrere Hundert Menschen an deutsche Kliniken und Pflegeheime vermitteln zu können. Die ersten von ihnen haben bereits die Arbeit aufgenommen: Einige arbeiten für eine Einrichtung in Lindlar, andere sind in Süddeutschland tätig – und weitere sollen folgen.

Der Pflegenotstand beschäftigt auch die Bundesregierung. Ein Anliegen von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), als sie im Juni gemeinsam nach Brasilien geflogen, war die Anwerbung von qualifizierten Fachkräften aus der Pflege. In Brasilien gebe es in diesem Bereich einen Überhang, sagte damals Hubertus Heil. (jot)