Das Leben auf dem Land will gelernt sein. Auch für kleine Gemeinden ist der Zuzug auch eine Herausforderung. Denn sie müssen Infrastruktur vorhalten und die Neubürger integrieren.
Neue Lust aufs LandImmer mehr Städter zieht es auch zum Arbeiten aufs Dorf
Grüßen, Unterstützung anbieten, um Hilfe fragen – manchmal sind es die kleinen Dinge, die gelernt werden wollen, egal in welchem Alter. „Wenn du jemanden triffst, sagst du hallo. Jedes Mal wieder: Hallo, guten Morgen, guten Abend“, ermahnten Sybille und Rainer ihre Kinder. So ergaben sich schließlich Kontakte und Freundschaften, was die zugezogene Familie nicht nur in Sanitz bei Rostock in Mecklenburg-Vorpommern integrierte, sondern Rainer mit der Zeit sogar bis in den Gemeinderat brachte.
Erzählt haben die Sanitzer Neubürger das Mitarbeitern des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. „Neu im Dorf – wie der Zuzug das Leben auf dem Land verändert“, heißt deren soeben veröffentlichte Studie. Sie zeichnet das Wanderungsgeschehen der vergangenen Jahre nach und beschreibt anhand von Beispielen, was die neue Landlust für kleine Gemeinden in Deutschland bedeutet.
Tatsächlich entscheiden sich inzwischen mehr Menschen für ein Leben auf dem Land als noch vor einem Jahrzehnt. Aktuell erzielen deshalb laut Berlin-Institut deutschlandweit rund zwei von drei Landgemeinden sogenannte „Wanderungsgewinne“; es gibt dort also mehr Zuzüge als Wegzüge. Zehn Jahre zuvor war das nur bei etwa jeder vierten der Fall. Eine ähnliche Entwicklung erleben die Kleinstädte.
Gute Nachricht für kleine Gemeinden
„Diese Veränderungen im Wanderungsverhalten deuten sich schon länger an, seit 2017 hat die neue Landlust dann an Fahrt aufgenommen“, haben sie beim Berlin-Institut festgestellt. Corona habe den Trend noch einmal verstärkt. Für die kleinen Gemeinden und Städte spiele es dabei kaum noch eine Rolle, ob sie in der Nähe einer Großstadt oder in der Peripherie liegen.
„Das wachsende Interesse am Landleben ist für die kleinen Gemeinden grundsätzlich eine gute Nachricht“, sagt Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts. „Es bietet die Chance, viele demografische Herausforderungen ländlicher Regionen abzumildern.“ Junge Familien mit Kindern sorgten zum Beispiel dafür, dass Schule und Kita erhalten bleiben, und als Fachkräfte seien sie bei ländlichen Mittelständlern begehrt.
Unterschiedliche Erwartungen und Wünsche treffen aufeinander
Aber: Der Zuzug ist für kleine Gemeinden auch eine Herausforderung. Denn sie müssen Infrastruktur vorhalten und die Neubürger integrieren. Dabei treffen oft unterschiedliche Erwartungen und Wünsche aufeinander. „Eine funktionierende Dorfgemeinschaft ist kein Selbstläufer“, sagt Hinz.
„Und die Zugezogenen müssen das auch lernen, dass auf dem Land ein Hahn kräht. Das haben viele vergessen“, sagt ein alteingesessener Bürger aus Großharthau in Sachsen. Neubürger dächten bisweilen, man ziehe aufs Land, habe sein kleines Grundstück und sei dann für sich. „Aber das ist es halt nicht. Auf dem Land leben, das ist doch ein Miteinander“, sagt der Mann. Und das müsse geübt werden.
Im Sportverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder im Komitee zur Organisation des Sommerfests – ohne Engagement wird das mit dem Landleben meist nichts. Wer sich nicht einbringt, wird vermutlich auch nicht alt auf dem Dorf.
Homeoffice als wichtiger Umzugshelfer
Als wichtiger Umzugshelfer gilt dem ländlichen Raum der neue Trend zum Homeoffice. Für mehr und mehr Menschen spielt es keine Rolle mehr, wo genau ihr Schreibtisch steht – Hauptsache, es gibt schnelles Internet. Das zieht auch Menschen aufs Land, für die Familiengründung nicht auf der Prioritätenliste steht. Mit durchschnittlich 1,4 Tagen pro Woche hat sich die Arbeit in den eigenen vier Wänden in Deutschland nach der Corona-Pandemie etabliert.
Auch eine gute Verkehrsanbindung zieht Menschen an. So berichtete eine junge Familie, die neu in das am Nord-Ostseekanal gelegene Borgstedt kam, dass es ihnen letztendlich egal gewesen sei, in welchem Dorf sie schließlich sesshaft werden – Hauptsache, die Kinder könnten Natur erleben, man finde eine finanzierbare Immobilie und der Ort liege in Pendeldistanz zur Arbeitsstelle.
Trotz der aktuellen Wanderungsgewinne erlebt der ländliche Raum aber keine flächendeckende demografische Wende, so die Studie: Von den 3´532 Gemeindeverbänden und Einheitsgemeinden, die deutschlandweit zwischen 2018 und 2020 im Schnitt Wanderungsgewinne verzeichnet haben, sind 1159, also rund ein Drittel, dennoch geschrumpft, weil mehr Menschen sterben als hinzukommen.
„Die Verantwortlichen sollten daher den demografischen Wandel weiter im Blick haben und beim Wohnangebot möglichst den gesamten Lebenszyklus im Ort ermöglichen“, sagt Berlin-Institut-Direktorin Hinz. Während ältere Menschen Barrierefreiheit benötigten, vermissten Jüngere auf dem Land Mietwohnungen. Mehrfamilienhäuser mit Wohnungen in verschiedenen Größen und Ausstattungen würden den vielfältigen Wohnbedürfnissen also besser gerecht als Einfamilienhäuser.
Wie die Studie vorgegangen ist
Das Berlin-Institut hat quer durch die Republik sechs kleine Gemeinden, die zuletzt viel Zuzug hatten, jeweils für rund eine Woche besucht, um zu erfahren, wie die neue Landlust das Zusammenleben auf dem Land verändert: das schwäbische Allmendingen in Baden-Württemberg, das am Nord-Ostseekanal gelegene Borgstedt in Schleswig-Holstein, Großharthau in Sachsen, das oberfränkische Mehlmeisel in Bayern, Sanitz bei Rostock in Mecklenburg-Vorpommern und Wanfried im hessischen Teil des Werratals. Dort führten die Mitarbeiter des Berlin-Instituts zahlreiche Interviews mit Alteingesessenen, Neubürgern und Verantwortlichen in der Verwaltung.
Es sind es vor allem Menschen im klassischen Familienalter zwischen 30 und 49 Jahren mit ihren minderjährigen Kindern und Berufseinsteiger zwischen 25 und 29 Jahren, die ländliche Regionen für sich entdecken. Erschwinglicher Wohnraum, eine gute Verkehrsanbindung, ein schneller Internetanschluss und eine gute Kinderbetreuung locken die Menschen in den Ort. Die Erwartungen an das Leben dort können allerdings sehr unterschiedlich sein. (thl)