AboAbonnieren

Interview mit Tafel-ChefWarum sind die Tafeln in Deutschland am Limit?

Lesezeit 4 Minuten
Die Tafel ist eine gemeinnützige Hilfsorganisationen, die Lebensmittel an Bedürftige abgeben.

Die Tafel ist eine gemeinnützige Hilfsorganisationen, die Lebensmittel an Bedürftige abgeben.

Jede dritte der gemeinnützigen Einrichtungen hat temporäre Aufnahmestopps für Kunden verhängt. Tafel-Chef Andreas Steppuhn sagt, wenn nichts passiere, gingen vielerorts bald die Lebensmittel aus.

Die Tafeln in Deutschland seien im Dauerkrisenmodus, lautet seine Zustandsbeschreibung. Andreas Steppuhn ist seit diesem Jahr Vorsitzender des Dachverbandes der Tafeln, saß zuvor für die SPD im Bundestag sowie im Landtag von Sachsen-Anhalt. Man sei keine staatliche Einrichtung, betont Steppuhn. Dennoch würde die kräftezehrende Arbeit der Ehrenamtler allzu oft wie selbstverständlich hingenommen. Was, wenn es keine Tafeln gäbe?

Herr Steppuhn, das Leben in Deutschland ist deutlich teurer geworden. Entspannung ist nicht in Sicht. Was merken die Tafeln davon?

Die Situation bei den Tafeln ist dauerhaft angespannt. Viele Geflüchtete 2015, die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg: Die Tafeln arbeiten im Dauerkrisenmodus. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 verzeichnen wir im Schnitt 50 Prozent mehr Menschen, die zu den Tafeln kommen. Das sind nicht nur Geflüchtete. Es sind auch Menschen, die unter den gestiegenen Preisen leiden und nicht mehr zurechtkommen: Langzeitarbeitslose oder Menschen, die ihr geringes Einkommen aufstocken müssen, Rentnerinnen und Rentner, Alleinerziehende und Familien.

Können Sie eine absolute Zahl an Kunden nennen?

Es schwankt. Zwischen 1,6 und 2 Millionen Menschen nutzen regelmäßig das Angebot der Tafeln. Damit sind die Tafeln an der Kapazitätsgrenze. Jede dritte Tafel verhängt temporäre Aufnahmestopps, bei vielen Tafeln sind Wartelisten Alltag.

Das heißt grob überschlagen, die Bewohnerzahl von Hamburg versorgt sich bei den Tafeln mit Lebensmitteln, weil es sonst nicht reicht. Ist das in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen?

Nicht ausreichend. Armut in Deutschland nimmt zu. Löhne und Renten steigen schlichtweg nicht schnell genug, um die Preissteigerungen auszugleichen. Es kommen Menschen zu uns, die voll im Erwerbsleben stehen, aber ein vergleichsweise niedriges Einkommen auf Mindestlohn-Niveau bekommen. Bei steigenden Mieten vor allem in den Großstädten, Energiekosten und Lebensmittelpreisen ist das zum Leben schlicht zu wenig. Wer heute einen niedrigen Lohn bekommt, der erhält später auch eine niedrige Rente. Das heißt: Deutschland verarmt immer weiter.

Lautet das Motte manchmal auch: Lieber Bürgergeld statt Arbeiten gehen?

Abgesehen davon, dass die meisten Menschen, die ich auch bei den Tafeln erlebe, sich eine Aufgabe wünschen – es stimmt wohl in den wenigsten Fällen, dass jemand, der Bürgergeld bekommt, mehr Geld hat. Diese Debatte spaltet unsere Gesellschaft. Mehr nicht. Dieser Teufelskreis muss politisch bekämpft werden. Wir können doch bei den Ärmsten nicht noch mehr kürzen. Sowohl das Bürgergeld als auch die Einkommen und Renten müssen steigen.

Das ist – gerade in Krisenzeiten – leichter gesagt als getan.

Zunächst einmal: Der Staat darf sich nicht auf den Tafeln ausruhen. Wir haben es gerade bei den Geflüchteten aus der Ukraine gemerkt: Denen wurde häufig auf Ämtern empfohlen, sie sollten zur Tafel gehen, da würden sie dann schon versorgt. So etwas darf nicht sein! Wir sind keine staatliche Organisation, wir sind Ehrenamtler, die am Limit arbeiten. Wir können nicht das verantworten, was der Staat nicht organisiert bekommt.

Die Zahl der Asylanträge steigt wieder stark. Was merken die Tafeln davon?

Wir beobachten bei den ukrainischen Kriegsgeflüchteten, dass viele mittlerweile im Arbeitsmarkt angekommen sind und nicht mehr auf die Tafel angewiesen sind. Aber richtig: Zugleich steigt die Zahl der geflüchteten Menschen aus anderen Herkunftsregionen an.

Wie ist denn die prozentuale Verteilung: Wie viele Tafel-Klienten sind deutsche Staatsbürger, wie viele Ausländer?

Das erheben wir in dem Sinne nicht. Ich würde sagen: Die Mehrheit sind nach wie vor deutsche Staatsbürger. In Großstädten gibt es sicherlich auch Tafeln mit mehr Kunden, die einen Migrationshintergrund haben. Was uns ganz wichtig ist: Egal, woher ein Mensch kommt, wir sehen bei den Tafeln Menschen, die in Not sind und wirklich nicht genug Geld für ein Leben in Würde haben. Diese Problematik findet in der öffentlichen Debatte zu wenig statt.

Wie steht es denn um die Spendenbereitschaft in Sachen Lebensmitteln beim Einzelhandel?

Bei Supermärkten und Discountern bleiben weniger Lebensmittel übrig. Das hat jetzt nichts mit den Krisen dieser Zeit zu tun, sondern mit mehr Digitalisierung und Strategien der Unternehmen, um Lebensmittelverschwendung zu reduzieren: Es wird nur das bestellt, was man auch wirklich benötigt. Dementsprechend bleibt am Ende weniger Ware über, die gespendet werden kann. Das merken wir schon. Wir gehen deswegen auch direkt auf Hersteller zu. Dort gibt es ja ebenfalls Lebensmittel, die wir vor dem Wegwerfen retten können.

Leere Regale in den Tafeln?

So weit ist es noch nicht. Aber es gibt deutliche Unterschiede zwischen Großstädten und dem Land: Eine Tafel in einer Stadt kann viele Supermärkte anfahren. Im ländlichen Raum haben sie vielleicht zwei oder drei Supermärkte. Wenn also insgesamt die Menge an gespendeten Lebensmitteln zurückgeht, die übrig bleiben, dann merken Tafeln im ländlichen Raum das. Da gehen tatsächlich Tafeln die Lebensmittel aus, obwohl ja immer noch viele Lebensmittel vernichtet werden. Manchmal fehlen uns Lager- oder Transportkapazitäten, um Großspenden annehmen zu können. Deshalb fordern wir auch finanzielle Unterstützung von der Politik.