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Mit Sorge ins neue JahrWie viel Gefahr droht unserer Industrie?

Lesezeit 3 Minuten
Man sieht eine Industrieanlage, aus Schornsteinen kommt Dampf.

Industrie in NRW. (Symbolbild)

Nicht zuletzt durch die hohen Energiepreise gerät Deutschland als Industriestandort derzeit in Bedrängnis. Aber nicht nur teure Energie lässt Deutschland im internationalen Vergleich ins Hintertreffen geraten. Kann die Bundesregierung gegensteuern und die Industrie stärken?

Die deutsche Wirtschaft sieht die zunehmende Gefahr einer schleichenden Deindustrialisierung in Deutschland – mit möglichen Folgen für viele Jobs. Industriepräsident Siegfried Russwurm sagte, der Standort Deutschland habe zahlreiche „Handicaps“ und verliere an Wettbewerbsfähigkeit. DIHK-Präsident Peter Adrian warnte vor einer zunehmenden Verlagerung von Produktion ins Ausland.

Wie bewerten Gewerkschaften die Lage?

DGB-Chefin Yasmin Fahimi kündigte an, die Gewerkschaften würden die Fragen, wie wettbewerbsfähige Industrie-Strompreise sichergestellt werden könnten, im nächsten Jahr ganz vorne auf die Tagesordnung in den Gesprächen mit der Bundesregierung setzen. „Je tiefer die Schnitte in die Wertschöpfungskette werden, je mehr Unternehmen der Wertschöpfungskette Deutschland verlassen, desto dramatischer wird der Dominoeffekt sein.“

Die Energiepreise sind überfrachtet mit Steuern und Abgaben.
Siegfried Russwurm Industriepräsident

Der Chef der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, hatte eine rundum neu entwickelte Industriepolitik für Deutschland und Europa verlangt. Nur so ließen sich die nötigen Anreize für ökologisch tragfähige Investitionen sowie den Erhalt von Arbeitsplätzen schaffen – und weitere Abwanderungen etwa nach China oder in die USA verhindern.

Welche Maßnahmen plant die Politik?

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte eine aktivere Industriepolitik Deutschlands und der EU angekündigt. Er sagte Ende November auf einer Industriekonferenz, das nächste Jahr stehe im Zeichen der Industriepolitik. Ziel sei es, die Standortsicherheit auszubauen und den grundlegenden Wandel hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft voranzutreiben.

In welchen Bereichen muss Deutschland besser werden?

Deutschland und die EU müssten bürokratische Hemmnisse beseitigen und Planungsverfahren beschleunigen, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). „Das ist in anderen Ländern wesentlich einfacher und unkomplizierter, weil sie ziel- und lösungsorientiert arbeiten – während bei uns Unternehmen häufig die Erfahrung machen, dass ihnen Steine in den Weg gelegt werden.“ Das sei für Deutschland ein großes Ansiedlungshemmnis.

  1. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, bezeichnete in der „Augsburger Allgemeinen“ die Warnungen vor einer möglichen Deindustrialisierung als „Schreckgespenst, das aufgebaut wird, um der Politik Geld aus den Rippen zu leiern“.
  2. Er sehe ein Risiko, dass energieintensive Unternehmen pleitegehen oder abwandern könnten. Auch ohne Preis-Schock wäre es wohl dazu gekommen. Denn Deutschland hat bisher noch nie einen Kostenvorteil bei Energie gehabt. „Ich bin sehr optimistisch, dass unsere Industrie diesen Schock gut wegstecken kann.“

Russwurm sagte: „Wir sind viel zu langsam, Stichwort Genehmigungspraxis. Die Unternehmensteuern sind im internationalen Vergleich zu hoch.“ Es brauche mehr steuerliche Anreize für Investitionen in Deutschland. „Die Energiepreise sind überfrachtet mit Steuern und Abgaben. Das können wir uns nicht mehr leisten im globalen Wettbewerb. Die aktuelle Krise ist nicht nur eine kleine Konjunkturdelle. In der grünen und digitalen Transformation gibt es für die Regierung immense Aufgaben zu erledigen.“ So sollte die Bundesregierung ein umfassendes Bürokratieentlastungsgesetz umsetzen.

Welche Indikatoren werden für die Entwicklung herangezogen?

Die Produktionsrückgänge in den energieintensiven Industrien in diesem Jahr seien ein Risiko für wichtige Wertschöpfungsketten, sagte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). „Die Standortbedingungen für diese Branchen haben sich durch den Krieg und die Lage an den Energiemärkten dauerhaft verschlechtert. Aber uns sind die Instrumente abhandengekommen, diese Verschlechterung frühzeitig zu erkennen: Wir haben viele Jahrzehnte gelernt, dass die Arbeitslosenquote ein guter Indikator ist, wie es unserer Wirtschaft geht. Und plötzlich gilt diese Regel nicht mehr, weil wir mehr als 400000 Arbeitskräfte netto jedes Jahr verlieren.“ Aus dem Fachkräftemangel sei ein Arbeitskräftemangel geworden, so Russwurm. „Aber aus vielen offenen Stellen und hoher Beschäftigung den Schluss zu ziehen, der Industrie und dem Land gehe es gut, ist eine gefährliche Fehleinschätzung.“

Warum verlegen deutsche Firmen ihre Arbeit ins Ausland?

  1. Hintergrund der Befürchtungen ist auch das US-Inflationsbekämpfungsgesetz, das milliardenschwere Investitionen in den Klimaschutz vorsieht. Subventionen und Steuergutschriften sind daran geknüpft, dass Unternehmen US-Produkte verwenden oder selbst in den USA produzieren.
  2. Daran gibt es viel Kritik in Europa, wo man Nachteile für heimische Unternehmen befürchtet. DIHK-Präsident Peter Adrian sagte: „In Amerika betragen die Strompreise ein Fünftel dessen, was wir jetzt hier in Deutschland aufbringen. Beim Gas ist es derzeit ein Siebtel.“
  3. Eine Abwanderung von Industrieproduktion ins Ausland sei ein schleichender Prozess. „Wir werden einen Strukturwandel unserer Wirtschaft erfahren.“ (dpa)

Auch positive Ergebnismeldungen der letzten Zeit dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Unternehmen ihre Gewinne vor allem in ihren Auslandsgesellschaften machten. „Es ist heute schon so, dass international aktive deutsche Konzerne ihre neuen Produkte leider nicht in Deutschland entwickeln, sondern woanders, wegen strikter oder zu vieler Vorgaben hier“, sagte Russwurm. Das maßgebliche Regelungswerk für die Datenwirtschaft, der Data Act, müsse europäische Datenräume schaffen, um Skaleneffekte wie in den USA oder in China zu ermöglichen. Aktuell verpasse Deutschland wegen einer Überbetonung des Datenschutzes wichtige Chancen zum Beispiel in der künstlichen Intelligenz und in der Datenökonomie. „Ein drastisches Beispiel für die deutsche Datenangst ist die elektronische Gesundheitskarte, über die wir seit 25 Jahren diskutieren. Werde ich nachts als Notfallpatient ins Krankenhaus gebracht, will ich, dass der Arzt, die Ärztin meine Krankengeschichte kennt, dass die Daten auf Knopfdruck verfügbar sind.“ (dpa)