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Virologe im InterviewWie gefährlich die Delta-Variante des Corona-Virus wirklich ist

Lesezeit 6 Minuten
Prof. Dittmer

Prof. Dr. Ulf Dittmer

  1. Wie gefährlich ist die aus Indien stammende Delta-Variante?
  2. In welchem Maße schützen Impfungen?
  3. Der Essener Virologe Ulf Dittmer meint: Wir dürfen bestehende Vorsichtsmaßnahmen nicht über Bord werfen.

Die Delta-Variante – ist sie nur leichter ansteckend, oder ist sie auch gefährlicher, erzeugt schwerer Krankheitsverläufe als andere Varianten?

Es gibt Berichte über einige schwere Verläufe in England, und wir kennen auch die dramatischen Schilderungen aus Indien. Dort war zu diesem Zeitpunkt aber die medizinische Versorgung sehr problematisch. Es deutet sich an, dass es tatsächlich mehr schwere Verläufe geben könnte, aber man kann es nicht abschließend sagen.

Nun heißt es, bei der Delta-Variante sähen auch die Symptome anders aus: Eher klassische Erkältungssymptome, weniger Geruchs- und Geschmacksverlust.

Das deutet sich in England so an. Offensichtlich ist das Virus in der Lage, sich noch stärker als andere Varianten im Nasen-Rachen-Raum zu vermehren.

Virusvarianten

72 002 Corona-positive Abstriche wurden seit Jahresbeginn 2021 (bis zum 6. Juni) als Stichprobe auf das Vorliegen von Virusvarianten untersucht. Insgesamt gab es in diesem Zeitraum 1,95 Millionen neue Corona-Fälle. Dominierende Variante mit 47 904 Fällen in der Stichprobe war die Alpha-Variante (früher britische Variante B 1.1.7). Die Delta-Variante B.1.617.2 wurde zuerst auf dem indischen Subkontinent nachgewiesen. Beta (Südfarika) und Gamme (Brasilien) spielen in Deutschland kaum eine Rolle. (EB)

Macht das die Delta-Variante so infektiös?

Genau. Die Personen haben eine sehr hohe Viruslast im Nasen-Rachen-Trakt, leider oft schon ein bis zwei Tage, bevor sie erkranken.

Lange haben wir Deutsche den Impffortschritt in Großbritannien bewundert. Wie kann es sein, dass sich eine Corona-Variante da doch so stark verbreitet?

Das Problem ist die Einschleppung von außen. Es sind sehr viele Viren aus Indien über verschiedene Orte in England eingeschleppt worden. Nur von einzelnen Infektionsherden aus hätte es sich nicht so stark ausbreiten können. Zudem hat England den Mund-Nasen-Schutz in Schulen abgeschafft, und dort hat sich das Virus dann sehr stark ausgebreitet, da Schüler auch in England kaum geimpft sind.

Die Maskenpflicht in Schulen haben wir gerade in NRW gestrichen …

Zum Glück nur in der Pause, also im Freien, nicht in den Klassenräumen. In England wurde er auch in den Klassenzimmern gestrichen, und das hat zur starken Ausbreitung beigetragen.

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Zu einem Zeitpunkt, als noch gar keine Impfstoffe zugelassen waren, warnte ein Aufsatz im Fachblatt „Lancet“, die damals gerade entwickelten Impfstoffe könnten keine sterile Immunität schaffen, also nicht davor schützen, dass Coronaviren die Schleimhäute besiedeln und die Patienten dann ansteckend sind. Bewahrheitet sich das jetzt?

Diese Sorge gab es, und sie hat sich als falsch erwiesen.

Aber jetzt haben wir doch die Fälle!

Trotzdem haben wir gesehen, dass die Impfstoffe sterile Immunität in einem viel höheren Maße schaffen, als wir es zu hoffen gewagt hatten. Auch die Infektion mit der englischen Alpha-Variante wird zu über 90 Prozent verhindert. Wir finden nach der Impfung massenweise Antikörper in den Schleimhäuten. Das hatte man in diesem Ausmaß nicht erwartet. Bei der Delta-Variante ist der Schutz eingeschränkt, aber er liegt nicht bei Null. Die neuesten Daten aus England zeigen auch bei der Delta-Variante einen 80-prozentigen Schutz vor der Infektion nach vollständiger Impfung. Nach nur einer Impfung ist der Schutz aber kaum der Rede wert.

In Deutschland weisen wir noch niedrige, aber steigende Anteile von Delta-Infektionen aus. Aber testen wir überhaupt genug, um das seriös sagen zu können?

Die Ergebnisse der letzten Woche haben wir noch nicht. Von der vorvorletzten zur vorletzten Woche ist der Anteil von 3,7 auf 6,2 Prozent gestiegen. Wenn man sich allerdings die Gesamtzahl anschaut, dann hatten wir vor drei Wochen 89 Fälle, in der vorletzten nur 74. Dass der Anteil steigt, liegt daran, dass die Gesamtzahl so runtergeht. In absoluten Zahlen gibt es weniger, nicht mehr Delta-Fälle. Wir achten inzwischen sehr genau darauf, alle Unikliniken, auch wir in Essen, sequenzieren alle positive Proben aus ihrer Stadt, und Kommunen wie Duisburg, die keine Universitätsklinik haben, arbeiten mit privaten Laboren zusammen. Wir haben also eine recht gute Datenlage.

Können wir also hoffen, dass wir die Lage außerhalb der britischen Inseln einigermaßen unter Kontrolle haben?

Die Lehre aus dem allen muss sein: Wir müssen den Eintrag von außen kontrollieren. In Schulen muss es beim Mund-Nasen-Schutz bleiben, und ich halte es für eine falsche Idee, die 3G-Regelung – Zutritt nur für Geimpfte, negativ Getestete oder Genesene – in Räumen von Restaurants abzuschaffen, wie gerade geschehen. Wir müssen die bestehenden Regeln gegen die Ausbreitung des Coronavirus befolgen und dürfen nicht alles über Bord werfen.

Was bedeutet das für die Impfkampagne? Wir haben bei weitem noch nicht alle impfwilligen Erwachsenen versorgt, da reden wir schon über Auffrischungsimpfungen. Heißt das also, während die letzten noch auf ihre erste Spritze warten, ist der Schutz bei den ersten schon wieder schwächer, wir können gar nicht alle gleichzeitig schützen?

Erste Aufgabe ist, möglichst schnell allen ein Impfangebot zu machen. Wichtig ist es, auf Impfstoffe zu setzen, die zweimal gegeben werden. Ich habe ein großes Problem mit Johnson & Johnson, das wirkt nicht anders als eine nur einmalige Impfung mit Astrazeneca. Das schützt vor Erkrankung, aber nicht vor Infektionen. Zweimalimpfungen mit den jetzt zugelassenen Impfstoffen schützen auch vor Infektionen mit der Delta-Variante sehr gut, damit können wir die Pandemie kontrollieren. Im Herbst und Winter könnten Auffrischungsimpfungen wichtig werden, die noch mehr Varianten abdecken. Daran wird ja gearbeitet.

Ist die Auffrischung für alle nötig?

Das müssen wir noch herausfinden. Wir wissen nicht, wie lange der Impfschutz anhält. In England und Israel ist der Schutz auch bei den ersten, vor acht Monaten geimpften Patienten noch sehr gut. Wir hier in Essen arbeiten mit Kollegen aus Wuhan zusammen und beobachten Genesene nach überstandener Corona-Infektion. Nach neun Monaten war der Schutz noch sehr gut, nach einem Jahr sehen wir einen Rückgang. Nach der Impfung ist der Antikörpertiter höher als nach der natürlichen Infektionen – ein Phänomen, das wir sonst von Impfungen gar nicht kennen. Ich hoffe, dass wir einen Impfschutz für viele Monate haben und die Auffrischung vor allem auf Risikopatienten konzentrieren können.

Müssen wir Kinder impfen, um eine möglichst breite Immunität zu schaffen?

Es wird schwer sein, Herdenimmunität zu erreichen, ohne Kinder zu impfen. Kinder profitieren aber medizinisch kaum von der Impfung, weil sie wenig von Corona-Erkrankungen betroffen sind. Also liegt die Latte für die Sicherheit eines Impfstoffs sehr hoch. Wir brauchen dringend eine Auswertung der Daten aus England und den USA, wo schon viele Kinder geimpft sind.

Sie sprechen das Thema Sicherheit an. Tatsächlich waren wir es nicht mehr gewohnt, über Todesfälle nach Impfungen zu sprechen oder auch über so schwere Komplikationen wie Herzmuskelenzündungen. Ist da eine Verbesserung in Sicht?

Das kann ich mir gut vorstellen. Wir haben ja Hinweise, wie die Thrombosen bei Vektorimpfstoffen zustandekommen. Wenn sich das erhärtet, können wir diese Impfstoffe so verändern, dass das nicht mehr vorkommt. Auch Herzmuskelentzüngen, wie sie selten bei RNA-Impfstoffen auftreten können, sollen in Zukunft verhindert werden.

Ein großer Impfstoffentwickler, Curevac, ist vorerst aus dem Rennen ausgeschieden. Die Bundesregierung sieht das entspannt. Zu Recht?

Ich finde das schon schlimm. Wir haben alle mit einer baldigen Zulassung gerechnet. Curevac hatte schon über 100 Millionen Dosen produziert, die sehr schnell hätten eingesetzt werden können. Wir haben Impfstoffmangel an allen Ecken und Enden, dürfen zurzeit in NRW-Impfzentren keine Erstimpfungen mehr durchführen. Ich sehe schon, dass die Curevac-Enttäuschung die Impfkampagne in Deutschland verlangsamt.