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Scheiterhaufen für die TotenIn Indien droht der Corona-Kollaps

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Indien Tote

 Szenen einer Masseneinäscherung von Opfern, die an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben sind, auf dem Gelände eines Krematoriums das für Massenverbrennungen umgewandelt wurde.

Neu Delhi – Mehr als 300000 Neuinfektionen und 2700 Todesfälle pro Tag, überlastete Krankenhäuser, nicht ausreichend Sauerstoff und Medikamente, überfüllte Leichenhallen und Krematorien, in denen die Scheiterhaufen nicht erlöschen. Die Corona-Situation in Indien wird immer dramatischer.

„Vor manchen Krankenhäusern stehen viele Krankenwagen und werden ihre Patienten nicht los. Teilweise sind sie auf der Suche nach einem freien Krankenhausbett zwei, drei Tagen durch die ganze Stadt gefahren und haben keines gefunden. Manche Patienten sterben im Krankenwagen, und die Krankenhäuser haben nicht genug Platz, um die Leichen zu lagern“, sagt Suvirajh John, Chefarzt am Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus in Delhi. Verzweifelt kämpft der Mediziner in der indischen Hauptstadt gegen die heftige zweite Corona-Welle, und ist dennoch oft machtlos.

Mangel an Arznei, Sauerstoff und Betten

Im ganzen Land mangelt es an Medikamenten, Krankenhausbetten und Sauerstoff, um schwer Erkrankte zu beatmen. Indien meldete am Dienstag 2771 weitere Corona-Tote und 323144 Corona-Neuinfektionen (Stand Dienstag Nachmittag). Damit gab es zum sechsten Mal in Folge mehr als 300000 neue Fälle an einem Tag. Nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität ist Indien mittlerweile nach den USA das Land mit den meisten Infizierten. Experten befürchten jedoch, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen dürfte, da in Indien nach wie vor wenig getestet wird.

Indien Scheiterhaufen

Angehörige stehen neben den brennenden Scheiterhaufen von Opfern die an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben sind.

„Viele Krankenhäuser haben derzeit nicht genug medizinischen Sauerstoff. Das gesamte medizinische Personal arbeitet im Überlebensmodus bis zur körperlichen und emotionalen Erschöpfung und versucht, so viele Leben wie möglich zu retten“, berichtet Suvirajh John. Trotz der rund um die Uhr arbeitenden Ärzten und Pflegern müssen derzeit Hinterbliebene in Krematorien aushelfen, um ihre verstorbenen Angehörigen einzuäschern.

Millionen Menschen feierten hinduistisches Fest

Mit der weltweit größten Ausgangssperre versuchte Indien zu Beginn der Pandemie den Corona-Kollaps zu verhindern. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren katastrophal, Staat und Hilfsorganisationen mussten Millionen Menschen mit Lebensmittelhilfslieferungen unterstützen. Doch die zunächst relativ geringen Infektions- und Todeszahlen schienen Premier Narendra Modi Recht zu geben.

Seit Anfang Juni letzten Jahres wurde der strikte Lockdown jedoch schrittweise gelockert, Anfang April kamen beim Kumbh Mela, dem größten hinduistischen Fest der Welt, Millionen Menschen zusammen, um gemeinsam und oft ohne Abstand und Maske zu feiern. Auch wenn die Teilnahme offiziell nur mit einem negativen Corona-Test erlaubt war, wurden die Feierlichkeiten sowie überlaufene Wahlkampfveranstaltungen und gut besuchte Cricket-Spiele zu Superspreader-Events.

„Kein anderes Land der Welt hatte so einen schnellen Anstieg der Corona-Infektionszahlen wie Indien. Wir haben mit einer zweiten Welle gerechnet, aber wir haben nicht damit gerechnet, dass sie so dramatisch werden würde“, sagt Suvirajh John.

Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, hatte schon zu Beginn der Pandemie damit gerechnet, dass das öffentliche indische Gesundheitssystem irgendwann kollabieren könnte. Er glaubt, dass der Kampf der indischen Regierung gegen die Pandemie von Anfang an kaum zu gewinnen war. „Mit dem unterfinanzierten und oft maroden öffentlichen Gesundheitssystem konnte man einer solchen Herausforderung nicht Herr werden“, so der Indien-Experte.

Welle ist außer Kontrolle

Die zweite Corona-Welle sei derzeit „außer Kontrolle“, meint auch Franklin Jones, Chef des Katastrophenmanagements der internationalen Hilfsorganisation World Vision in Indien. „Die Menschen betteln um ein Krankenhausbett für sich und ihre Angehörigen, einige Menschen sterben auf den Gehwegen vor den überfüllten Kliniken. In Teilen der Bevölkerung herrscht Panik“, so der erfahrene Helfer.

Vor allem der Mangel an Sauerstoff für Beatmungspatienten macht Jones Sorge. Die Regierung setzt bereits Militärflugzeuge und Züge ein, um Sauerstoff in die besonders betroffene Hauptstadt zu bringen. „Leider horten auch Erkrankte, die nicht beatmet werden müssen, Sauerstoff und wichtige Medikamente für den Notfall. Das verschärft die Lage. Die Regierung hat die Industrie angewiesen, sofort Sauerstoff herzustellen, aber ich fürchte, dass die dramatische Situation sich noch mindestens zehn Tage lang verschlimmern wird, bevor die Lage sich hoffentlich entspannt“, sagt Jones.

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World Vision betreibt derzeit auch Aufklärungsarbeit zur Vermeidung von Infektionen und klärt über die Impfkampagne der Regierung auf. Denn in Teilen der Bevölkerung gibt es noch immer von falschen Berichten geschürte Vorbehalte gegenüber einer Impfung.

Auch viele junge Menschen ohne Vorerkrankung betroffen

Pratibha Srivastava ist eine der offiziell mehr als 17,6 Millionen Inderinnen und Inder, die sich bereits mit Coronavirus angesteckt haben. Die 53-Jährige infizierte sich Ende März in der Millionen-Stadt Bhopal. „Obwohl ich mich sofort in Quarantäne begeben habe, habe ich auch meine beiden Kinder und meinen Mann angesteckt“, berichtet die Koordinatorin der Welthungerhilfe. „Die Menschen, die jetzt schwer erkranken, haben Angst, dass sie das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen“, berichtet die Expertin für öffentliche Gesundheit. Angst macht ihr, dass mittlerweile auch viele jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen schwer erkranken. „Es gibt einfach viel zu wenig Testkapazitäten. Von symptomfrei Erkrankten, die das Virus unwissentlich verbreiten, geht deshalb eine große Gefahr aus“, berichtet die Entwicklungshelferin.

Aus Angst vor der Ausbreitung der in Indien dominanten Virusmutante B.1.617 hat Deutschland unterdessen wie weitere Länder einen weitgehenden Einreisestopp für Indien verhängt. Zugleich sagten Deutschland, die USA, Großbritannien und weitere Staaten Indien zu, das Land schnell zu unterstützen.

Trotz der derzeit dramatischen Situation gibt Dr. Suvirajh John in Delhi sich kämpferisch. Der Arzt sagt: „Unser Land hat in der Vergangenheit schon viele Katastrophen wie Hungersnöte durchgemacht. Aber diese zweite Covid-19-Welle stellt uns alle auf eine unerwartete harte Probe. Doch Inder sind sehr gut darin, sich in Krisen neu zu erfinden. Wir werden auch diesen Kampf gewinnen.“