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Ein Jahr nach Corona-AusbruchWie es den Menschen in Gangelt heute geht

Lesezeit 6 Minuten
Gangelt Ortsschild

 Vor einem Jahr wurde Gangelt im Kreis Heinsberg über Nacht bekannt.

  1. Die Pandemie in NRW hatte ihren Startpunkt in Gangelt im Kreis Heinsberg
  2. Über Nacht wurde die Gemeinde deutschlandweit berühmt – und hätte gern darauf verzichtet.
  3. Was haben zwölf Monate Corona mit dem Dorf gemacht? Ein Besuch vor Ort.

Gangelt – Die Pandemie in NRW hatte ihren Startpunkt in Gangelt im Kreis Heinsberg: Über Nacht wurde die Gemeinde deutschlandweit berühmt – und hätte gern darauf verzichtet. Was haben zwölf Monate Corona mit dem Dorf gemacht? Ein Besuch vor Ort.

Mit einem Rechen steht Gisela Meisters auf dem Friedhof an der St.-Nikolaus-Kirche in Gangelt. Die Mittsechzigerin, die dort ehrenamtlich Gräber pflegt, verschnauft kurz und hält inne; die Glocken der Pfarrkirche läuten. Gleich wird ein Schulfreund von ihr beerdigt. Er habe Corona gehabt, sagt Meisters, die ihren echten Namen nicht öffentlich machen möchte. Vor drei Wochen habe sie ihn zuletzt gesehen auf der Straße. „Da hat er noch zu mir gesagt, dass ich Abstand halten soll“, sagt sie. Krank habe er dabei nicht gewirkt. Und gerade erst habe er erfahren, dass er Großvater werden würde. „Das ist schon sehr traurig“, sagt sie. „64 Jahre war er erst. Das ist doch kein Alter zum Sterben.“

Gangelt impression winter

Durch das Stadttor von Gangelt hindurch ist die St.-Nikolaus-Kirche zu sehen.

Aus Gangelt, der 13 000-Einwohner-Gemeinde im westlichen Zipfel des Kreises Heinsberg, stammt der erste bestätigte Coronavirus-Patient in NRW – ein 47-jähriger Familienvater. Er wird am 25. Februar 2020 in die Uniklinik Düsseldorf gebracht. Auch bei seiner Frau wird am Tag darauf, es ist Aschermittwoch, das Virus nachgewiesen. Damals gibt der Kreis Heinsberg eine Mitteilung heraus: Der Mann habe am Wochenende die Kappensitzung in Gangelt-Langbroich besucht, heißt es darin. Personen, die ebenfalls dort waren, werden gebeten, sich bei grippeähnlichen Beschwerden bei ihrem Hausarzt oder beim Gesundheitsamt zu melden.

Der Kreis Heinsberg macht deutschlandweit Schlagzeilen

Es ist der Beginn der Corona-Pandemie in Nordrhein-Westfalen. Kaum zwei Wochen nach der Kappensitzung gibt es bereits 20 bestätigte Covid-19-Infektionen im Kreis Heinsberg; rund 1000 Menschen begeben in diesen ersten Tagen in Quarantäne.

Fast auf den Tag genau ein Jahr später sitzt Guido Willems in seinem Büro im Gemeindehaus Gangelt. Es ist Freitagmittag. Der Bürgermeister hat die Fenster seines Büros geöffnet, von draußen sind die Glocken von St. Nikolaus zu hören. Erst seit dem 1. November ist der 39-Jährige im Amt; Vorgänger Bernhard Tholen hat sich nach 23 Jahren in den Ruhestand verabschiedet. „Mein erster Arbeitstag war auch der erste Tag des zweiten Lockdowns“, sagt er. Willems, der mit seiner Familie in Gangelt wohnt und dort aufgewachsen ist, gehörte zu den ersten im Kreis Heinsberg, die vom Corona-Ausbruch erfuhren; er leitete damals noch das Büro von Heinsbergs Landrat Stephan Pusch. „Als ich das hörte, war mir sofort klar, dass das kein reines Problem für Gangelt ist, sondern eines für den gesamten Kreis und darüber hinaus“, sagt er. „Wer sich hier auskennt, weiß, dass die Feiernden auf solchen Karnevalssitzungen aus der ganzen Region kommen.“

Wie das Virus nach Gangelt gekommen ist, weiß bis heute niemand. Weitergegeben wurde es aber am 15. Februar auf der Kappensitzung im Bürgertreff. Vermutlich hat sich das Virus durch Aerosole im Saal verbreitet. Man schätzt, dass sich die Hälfte der 300 Anwesenden infiziert hat. Aber davon wissen die Gäste an dem Abend natürlich nichts. In den folgenden Tagen besuchen viele von ihnen weitere Sitzungen in Sälen oder feiern Straßenkarneval.

Gangelt schild maske

Ein Schild mit der Aufschrift "Kreis Heinsberg trägt Maske. Mit Verstand und solidarisch durch die Krise" hängt am Ortsrand. 

Auch Willems hat Karneval gefeiert. Nicht nur in Gangelt, sondern auch in Köln. „Ich hatte am Wochenende nach Karneval auch mal Kopfschmerzen und mein Geschmackssinn war kurzzeitig schlecht. Aber an Corona habe ich da keine Sekunde gedacht. Diese Symptome galten damals noch nicht als Indiz für die Erkrankung.“

Die Bürger in Gangelt bleiben trotz der Pandemie ruhig, niemand gerät in Panik; nur in den ersten Tagen gibt es Hamsterkäufe, es sind bundesweit die ersten. Am Aschermittwoch sind schon mittags Nudeln und Toilettenpapier in den Supermärkten ausverkauft.

Und dann merken die Gangelter, dass sie plötzlich anders behandelt werden. In ihrer Gemeinde fängt es damit an, dass die Handwerker nicht mehr zur Gesamtschule kommen, wo die Gebäude saniert werden sollen: Ihr Chef will sie nicht der Gefahr aussetzen, dort zu arbeiten. Gangelter, die mit dem Auto außerhalb des Kreises unterwegs sind, werden mitunter angefeindet. Am „HS“ auf dem Nummernschild erkennt man, dass sie aus der Gegend kommen. 

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Dann legt sich die Aufregung – und das bis heute. Die Menschen helfen sich gegenseitig. Die meisten haben Verwandte im Dorf. „Großartig verändert haben sich die Leute hier nicht; wir sind vielleicht noch enger zusammengerückt. Und sie sind natürlich überanstrengt aus der Summe von Homeoffice, Kinderbetreuung und dem ganzen Corona-Programm“, sagt Willems. Grundsätzlich sei die Situation aber noch erträglich. Gangelt habe in seiner langen Geschichte schon Schlimmeres durchgemacht; verheerende Brände, die beiden Weltkriege, die Spanische Grippe.

32 Gemeindemitglieder sind an Corona gestorben

Die Straßen in Gangelt sind an diesem Februarfreitag leer. Die meisten Geschäfte haben wegen des Lockdowns geschlossen; die „Blumenperle“ ist eine der wenigen Ausnahmen. Inhaberin Jacqueline Peeters bereitet gerade einen Kranz für die Beerdigung des 64-Jährigen vor, der gleich auf dem Friedhof beigesetzt wird. Es wird ein kleiner Kranz. „Die Beerdigungen haben sich verändert. Die Kränze werden kleiner und weniger, nicht mehr so üppig. Es dürfen ja auch nicht mehr so viele Trauernde zu einer Beerdigung kommen“, sagt sie. Corona habe ihr Geschäft verändert – nicht nur was Bestattungen angeht. „Die Menschen kaufen mehr Blumen. Sie brauchen gerade in dieser Zeit etwas, an dem sie sich zumindest etwas erfreuen können“, sagt sie. In Gangelt gelten dieselben Lockdown-Regeln wie im übrigen Nordrhein-Westfalen. Das sei im ersten Lockdown noch anders gewesen, sagt Willems. Die Maßnahmen hier seien damals einmalig und lokal begrenzt gewesen. „Das ist sehr gut angenommen worden von der Bevölkerung und mit einer großen Akzeptanz versehen gewesen“, betont der Bürgermeister. Das wünscht er sich auch jetzt wieder. Es müsse mehr zwischen Großstädten und ländlichen Gemeinden wie Gangelt differenziert werden. Gerade in Gangelt habe man im vergangenen Jahr ein Infektionsgeschehen gehabt, das viel gefährlicher sei als jetzt – und dennoch habe man damals zum Friseur gehen können. Ihm schwebt eine lokal begrenzte Regelung für Gangelt oder den Kreis Heinsberg vor. „Warum sollen die Friseure hier nicht öffnen dürfen, wenn sie nur Bürger aus Gangelt bedienen?“, fragt er.

Einige Gangelter, die an Covid-19 erkrankt sind, sind ins künstliche Koma versetzt worden. Manche leiden noch heute an den Spätfolgen. 32 Menschen aus der Gemeinde sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben; viele von ihnen sind auf dem Friedhof von St. Nikolaus bestattet. Gisela Meisters kannte die meisten. „Nicht alle, aber der Großteil der Corona-Toten sind hier Urnenbeisetzungen“, sagt sie. Für ihren früheren Klassenkameraden ist ein Grab ausgehoben worden. Die Glocken der Pfarrkirche läuten.