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Clan-KriminalitätWie Clans sich inzwischen auch auf dem Dorf breit machen

Lesezeit 8 Minuten
razzia

Razzia in der Siedlung Bergfrieden: Von seinem Anwesen aus soll der Familienclan seine kriminellen Aktivitäten gesteuert haben.

  1. Clan-Kriminalität ist längst kein reines Großstadtphänomen mehr. Auch auf dem Land ringen Polizei und mutmaßliche Kriminelle darum, wer das Sagen hat.
  2. Das zeigt ein Fall aus Ostercappeln in der Region Osnabrück. Einblicke in einen Machtkampf.

„Man fühlte sich regelrecht alleingelassen vom Staat“, sagt ein Anwohner der Siedlung Bergfrieden und schiebt gleich hinterher: „Nennen Sie bloß nicht meinen Namen. Die wissen, wo ich wohne.“ So oder so ähnlich laufen viele Gespräche rund um Familie Z. Sie scheint eine unsichtbare Macht über die Siedlung Bergfrieden und weit darüber hinaus zu haben.

Ein hoher, blickdichter Zaun schottet das Eckgrundstück von der Nachbarschaft ab. Ein bisschen erinnert die Szenerie an eine Festung. Am massiven Tor zur Auffahrt hängt ein Schild: „Du siehst mich nicht… Du hörst mich nicht… aber glaub’ mir: Ich bin da!“, steht darauf. Daneben das Foto eines Dobermanns.

Glaubt man den Ermittlern, befand sich hinter dem Zaun die Schaltzentrale eines kriminellen Clans. Dessen Mitglieder sollen auf Raubzügen quer durch Niedersachsen und NRW ihre Opfer ausgeplündert haben. Wenn dem so war, ist damit vorläufig Schluss. Die führenden Köpfe wurden bei einer aufsehenerregenden Razzia festgenommen. Ihnen soll demnächst der Prozess gemacht werden.

Der Fall ist sinnbildlich für das härtere Vorgehen des Staates gegen mutmaßlich kriminelle Clans. Und doch ganz anders gelagert. Schauplatz sind schließlich nicht Berlin oder das Ruhrgebiet, die allgemein als Wirkungsstätte vermeintlich krimineller arabischstämmiger Großfamilien gelten. Nein, Familie Z. wohnt im beschaulichen Ostercappeln, einer Zehntausend-Einwohner-Gemeinde in Niedersachsen.

Bis heute staatenlos

Hierhin hat es die Familie vor einigen Jahrzehnten verschlagen. Im Libanon herrschte Bürgerkrieg. Zigtausende Flüchtlinge kamen nach Deutschland. Auch Familie Z. gab an, aus dem Libanon geflohen zu sein. Viele ihrer Mitglieder gelten bis heute offiziell als staatenlos.

Die Gemeinde brachte die Z.s in einem Wohnhaus im kommunalen Besitz unter. In dem Gebäude war ursprünglich ein Verein zu Hause, der sich um Tuberkulose-Kranke kümmerte, die vom Rest der Gesellschaft isoliert werden sollten. Es wurde die neue Heimat der Familie, die Haus und Grundstück später kaufte und ausbaute.

Wie bei Müllers oder Meyers führt der allergrößte Teil der Familienmitglieder ein unauffälliges Leben, geht einer geregelten Arbeit nach, kommt nicht mit dem Gesetz in Konflikt. Aber es gibt bei Familie Z. eben auch diejenigen, für die das nicht gilt.

In Ostercappeln heißt es, der Ärger ging erst richtig mit der dritten Generation los, mittlerweile in etwa zwischen 25 und 42 Jahre alt. Um sie ranken sich im Ort Geschichten von zerstochenen Reifen, zerkratzten Autos und eingeworfenen Fensterscheiben. Von einem „Klima der Angst“ ist die Rede, das die Gruppe in der Siedlung Bergfrieden erzeugt habe. Aber die Z.s wirken weit darüber hinaus.

Mutmaßliche Einbruchsopfer etwa, weit weg von Ostercappeln, berichten von einer Ohnmacht. „Ich habe das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren“, sagt einer, der sich wundert, dass dem mutmaßlich kriminellen Clan erst jetzt das Handwerk gelegt wird. Sein Fall ist Teil der Ermittlungen gegen die Z.s und ihre Kompagnons. Wer sich im Umfeld des Clans umhört, gewinnt den Eindruck, die Familie hätte um sich einen rechtsfreien Raum geschaffen – beziehungsweise einen Raum, in dem ihr Recht gilt.

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Was sagt die Familie selbst? Bei einem Ortsbesuch Mitte März öffnet jemand kurz die Haustür – und wirft sie krachend wieder zu, nachdem klar ist, dass der Besucher Fragen zu den mutmaßlich kriminellen Aktivitäten hat. Offenbar will man nicht sprechen, zumindest nicht mit Journalisten.

Auf Facebook gibt es eine Seite mit dem Namen „Die neuen Kristallnächte in Deutschland“. In Ermittlerkreisen geht man davon aus, dass diese Seite von der Familie oder ihnen nahe stehenden Personen betrieben wird.

Geteilt werden Berichte über angeblich kriminelle Polizisten, Berichte über Familie Z., die als „Fake News“ bezeichnet werden – und offenbar Innenansichten des Wohnhauses in Ostercappeln unmittelbar nach einer Razzia. Fotos und Videos geben Einblick hinter den Zaun. Zu sehen sind verwüstete Räume und Mobiliar. Die Familie, darauf deuten die Facebook-Beiträge hin, sieht sich als Opfer staatlicher Schikane. Der Vergleich zur Judenverfolgung in Nazi-Deutschland wird gezogen.

Mit Bauschutt fing es an

Die Anwälte wollen sich zu der langen Liste an Vorwürfen gegen ihre Mandanten vorläufig nicht äußern. Seit Dezember sitzen zwei der Z.s in Untersuchungshaft, weitere sollen auf der Liste der Beschuldigten im Ermittlungsverfahren „Bauschutt“ auftauchen.

Der Name rührt von einer Entdeckung, die viele Monate zurückliegt: In einem Waldstück nahe dem Wohnhaus fanden Zeugen Bauschutt, der hier offenbar illegal abgeladen worden war. Ein Vergehen, aber im Vergleich zu dem, was sich daraus entwickeln sollte, ein ziemlich banales.

Die Polizei nahm die Arbeit auf, ging Spuren nach und endete bei dem ihnen wohlbekannten Familienclan aus Ostercappeln. Einzelne Mitglieder sind in der Vergangenheit immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Derjenige, den manche den Boss nennen, fuhr im April 2013 in Osnabrück einen 22-jährigen Fußgänger tot. Das Amtsgericht verurteilte ihn damals wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 16300 Euro.

Mittlerweile ist der „Boss“ 30 Jahre alt. Mehrere Jahre verbrachte er nach einer Serie von Firmeneinbrüchen in Haft. Erst Ende 2018 kam er wieder frei. Seit den Razzien im Dezember sitzt er wieder hinter Gittern. Dabei hätten der „Boss“ und seine Mitstreiter gewarnt sein können, dass sie wieder ins Visier der Polizei geraten waren.

Am frühen Morgen des 6. Juni 2019 rückten 40 teils schwer bewaffnete Beamte an. Gewaltsam verschafften sich die Einsatzkräfte Zugang zum Wohnhaus der Z.s. Sie entdeckten Hunderte Kartons Kosmetika, hochwertige Kleidung, Bargeld und andere Dinge, die nicht zu den offiziellen Vermögensverhältnissen der Familie passen wollten. Der Großteil der Bewohner soll Sozialleistungen beziehen.

Bestätigen sich die Vorwürfe der Ermittler, kam es in den Monaten danach zu einem regelrechten Raubzug quer durch Niedersachsen und das angrenzende NRW. Daran sollen Mitglieder der Familie Z., aber auch eine ganze Reihe von Gehilfen teilgenommen haben. Manche sollen selbst eingebrochen sein, andere mögliche Opfer ausspioniert oder als Hehler gestohlene Ware veräußert haben. Auch gegen Scheinhalter von Luxusfahrzeugen wird ermittelt, mit denen die Z.s unterwegs gewesen sein sollen.

Das nötige Geld für diesen Lebensstil, der wohl auch teurere Urlaube umfasste, soll durch Raub und Einbruch zusammengekommen sein. Die Liste der mutmaßlichen Tatorte ist lang. In der Weihnachtszeit 2019 beispielsweise soll die Bande in mindestens sieben Wohnhäuser eingebrochen sein oder es zumindest versucht haben. Wo es gelang, waren offenbar nicht einmal die Weihnachtsgeschenke unter den Tannenbäumen vor ihnen sicher.

Verachtung des Rechtsstaats

Dass die Bande die Polizei trotz der Razzien offenbar nicht ernst genommen hat und ungerührt weiter ihren Machenschaften nachging, entspricht dem, was landläufig unter Clankriminalität verstanden wird. Eine feste Definition gibt es zwar nicht. Doch Clans werden häufig als Gruppe – meist untereinander verwandt – umschrieben, die Missachtung von Recht und Gesetz und die Verachtung gegenüber denjenigen, die die Einhaltung des Rechts durchsetzen sollen, eint.

Aus gut informierten Kreisen heißt es, ermittelnde Beamte seien auf offener Straße von Personen aus dem Umfeld der Z.s zur Rede gestellt und wohl auch bedroht worden. Zumindest empfanden die Beamten das so. Die Ermittler schließen nicht aus, dass die Drohungen auch in die Tat umgesetzt werden. Es heißt, einige der Z.s hätten eine „extrem kurze Zündschnur“, ihnen sei alles zuzutrauen.

Von den beiden mutmaßlichen Rädelsführern – dem „Boss“ und seinem zwei Jahre jüngeren Bruder – geht vorläufig keine Gefahr mehr aus. Mitte Dezember präsentierten die Ermittler ihnen einen Haftbefehl. Ein Richter ordnete Untersuchungshaft an. Einer der Gründe: Verdunkelungsgefahr. Die Ermittler befürchten also, dass die Z.s Zeugen vor einem möglichen Prozess einschüchtern könnten.

Spezialkräfte beschlagnahmten bei einer neuen Durchsuchung im Wohnhaus der Z.s Bargeld und Schmuck im Wert von etwa 100000 Euro. In der Zweitwohnung des Hauptbeschuldigten entdeckte die Polizei nach eigenen Angaben zudem ein hochpreisiges Kunstwerk, das im vergangenen Jahr bei einem der Wohnungseinbrüche gestohlen worden sein soll. Das Objekt war keineswegs versteckt. Es hing gut sichtbar über dem Bett.

Der Fall macht exemplarisch deutlich, was unter der neuen Härte zu verstehen ist, mit der der Staat den Clans begegnen will. So als wolle er ihnen sagen: Ihr respektiert die Gesetze nicht? Dann machen wir euch platt. Mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat aufzubieten hat. Ob es wirkt? Fragwürdig. Denn auch nach der Razzia fielen Personen aus dem Umfeld der Ostercappelner Familie negativ auf.

Die Festung des Clans vom Dorf könnte übrigens bald geschliffen werden. Die Baubehörde beim Landkreis prüft, ob der Zaun um das Eckgrundstück in der Siedlung Bergfrieden zu hoch und damit rechtswidrig ist. Wenn sich das bestätigt, müsste er gekürzt werden. Auch das mag man unter der neuen Null-Toleranz-Strategie des Staates verstehen.

45 Verfahren in 2019

Im Jahr 2019 ermittelten Bundes- und Landesbehörden in 45 Verfahren (Vorjahr: 45) der Organisierten Kriminalität (OK), die der Clankriminalität zugeordnet werden konnten. Das entspricht einem Anteil von 7,8 Prozent (2018: 8,4 Prozent). Die der Clankriminalität zugeordneten OK-Gruppierungen werden vorwiegend von Personen deutscher, libanesischer, türkischer oder syrischer Staatsangehörigkeit dominiert. Die Verfahren richteten sich gegen 20 Gruppierungen der Mhallamiye, 14 Gruppierungen arabischstämmiger Herkunft, vier Gruppierungen türkeistämmiger Herkunft, zwei Gruppierungen mit Herkunft aus Westbalkan-Staaten, einer Gruppierung mit Herkunft aus den Maghreb-Staaten sowie vier Gruppierungen mit anderer Herkunft. Über zwei Drittel aller OK-Ermittlungen bei Clankriminalität erfolgten in den Ländern, in denen sich kriminelle Strukturen der Clankriminalität in besonderer Weise verfestigt haben: Nordrhein-Westfalen (19 OK-Verfahren), Berlin (7), Niedersachsen (5) und Bremen (1). In über der Hälfte der OK-Verfahren gingen kriminelle Angehörige von Clanstrukturen dem Rauschgifthandel/-schmuggel nach. Mit Abstand folgten die Bereiche Eigentum, Wirtschaft und Schleusung.