Der britische Dichter Lord Byron reiste 1816 nach Köln, auf der Flucht vor einer drohenden Todesstrafe wegen Homosexualität. Historiker Anselm Weyer hat sich auf „Spurensuche“ begeben.
Kölner Serie „Spurensuche“Als Lord Byron im „Jahr ohne Sommer“ nach Köln reiste
Als einer der ersten Weltstars der Geschichte wurde der Dichter Lord Byron allenthalben fast schon vergöttert. Sein Ruhm basierte aber auch darauf, dass er sich allen Konventionen verweigerte. Daraus resultierte ein äußerst schlechter Ruf. Er sei verrückt, böse und ein schlechter Umgang, schimpfte eine ehemalige Geliebte. Wohl nicht zu Unrecht. Als George Gordon Noel Byron am 19. April 1824 in Griechenland verstarb, genügte seinen Freunden ein Blick in die Autobiografie in seinem Nachlass, um sie zu überzeugen, dass das Manuskript unbedingt zerstört werden müsste.
Indizien für Homosexualität brachten ihn in Lebensgefahr
Bereits 1816 hatte sich Byron gezwungen gesehen, aus seiner Heimat zu fliehen. Die Trennung von seiner Ehefrau war in eine Schlammschlacht gemündet, in deren Folge sich die Beweise für seinen illegalen Lebenswandel verdichtet hatten. Dass Byron mit seiner Halbschwester eine Liebesbeziehung unterhielt und sie höchstwahrscheinlich sogar eine gemeinsame Tochter hatten, war schlimm genug. Nun mehrten sich Indizien für ausgelebte Homosexualität. Darauf stand in Großbritannien die Todesstrafe. Als die Lage zu bedrohlich wurde, engagierte der 28-Jährige einen Leibarzt, Dr. John Polidori, mit dem zusammen er Ende April 1816 von Dover nach Ostende übersetzte, um schließlich über Brüssel nach Köln zu kommen.
Es war das „Jahr ohne Sommer“. Ein immenser Vulkanausbruch in Indonesien hatte nicht nur um die 70.000 Menschen vor Ort getötet, sondern auch gewaltige Mengen von Asche und Staub in die Atmosphäre geschleudert, die rund um den Globus die Sonnenstrahlen abhielten und 1816 zum kältesten Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen machten. Entsprechend unkomfortabel gestaltete sich für Byron seine Reise. „Über viele schlechte, sandige, matschige Straßen gelangten wir um 23 Uhr nach Köln“, schreibt Polidori über die Anreise von Aachen am 8. Mai 1816. „Wir stöhnten darüber, das weithin berühmte Köln nicht zu sehen, als wir uns plötzlich unter seinen Zinnen und Türmen wiederfanden.“
Den Kölner Dom sah Lord Byron in schlechtem Zustand
Nachdem sie trotz der späten Stunde ohne Komplikationen die Stadtmauer passieren durften, fanden sie alle Gasthäuser voll, bis sie schließlich im Hôtel de Prague, Neumarkt 10, eine Unterkunft fanden. Am nächsten Morgen wurden sie von Musik geweckt. Kurzerhand engagierten sie die Künstler, damit sie drinnen weiterspielten: „Eine Harfe, gespielt von einer dunkelhaarigen Deutschen, hübsch, und zwei Geiger. Sie spielte und sang The Troubadour, der eine Reihe schottischer Erinnerungen hervorrief, und ein deutsches Lied; dann einen schönen Marsch, bei dem die Musik verklang und plötzlich wieder auflebte. Nach einem Walzer entließen wir sie.“
Byron und Polidori bestiegen eine Droschke und fuhren zum Dom, dessen schlechten Zustand sie der gerade beendeten französischen Besatzung zuschrieben: „Ein großer Teil wurde von den Revolutionären niedergerissen, und das Dach des Kirchenschiffs musste mit einfachen Brettern wiederhergestellt werden.“ Neben den imposanten Glasfenstern zeigt sich Polidori besonders von Dreikönigenschrein und Domschatz beeindruckt. Er registriert dankbar, dass die Domschweizer ihm nicht böse sind, als er ein Glas zerbricht, nachdem er auf einer Stufe im Dom ins Stolpern geriet.
Weiter ging es dann nach St. Ursula, wo ihnen, so Polidori, „die Schädel von neunzigjährigen Jungfrauen gezeigt wurden, männlich und weiblich, alles durcheinander in einer Masse von 11.000 Jungfrauenknochen, alle in der richtigen Reihenfolge angeordnet – einige vergoldet. Ein ganzer Raum war damit geschmückt. Alles, was wir überall sahen, waren Relikte, Schädel; einige in den Köpfen von Büsten mit silbernen Gesichtern, andere in kleinen Zellen mit Samtbehältnissen angeordnet, in die jeweils der Name eingearbeitet war.“ Polidori ist angetan und fragt, ob er ein Stück mitnehmen könne. Daraufhin habe er aber „nur ein Lächeln bekommen, und den Hinweis auf ein Verbotschild auf Latein, das ich nicht gelesen hatte“.
Kein besonders schmeichelhaftes Bild von Köln
Nachdem sie dann noch in St. Peter Rubens Gemälde Die Kreuzigung des St. Peter besichtigt hatten, gingen sie zurück ins Hotel. Polidori schrieb dann noch an Ferdinand Franz Wallraf und bat, seine Sammlung bestaunen zu dürfen, was ihm gerne gewährt wurde. Byron leistete ihm dabei aber wohl ebenso wenig Gesellschaft wie beim anschließenden Besuch der Buchhandlung von Miss Helmhoft, die ihrem englischen Gast begeistert deutsche Poesie deklamiert.
Nachts besuchten die Reisenden noch einmal den Rhein, der „so breit wie die Themse unterhalb von Blackwall“ sei, „aber ohne Gezeiten und sehr tief.“ Polidoris Resümee von Köln ist nicht sonderlich schmeichelhaft. „Die Stadt ist schmutzig, zerfallen, schlecht gepflastert, noch schlechter beleuchtet, während es nur wenige Spuren von Pracht und Komfort gibt.“ Immerhin der Besuch von St. Ursula hat bei Byron so viel Eindruck gemacht, dass er auch den Titelhelden seines unvollendeten Versepos Don Juan hierherkommen lässt:„In Köln sodann besah sich unser Don/ Ein Schauspiel, das du wohl mit Ehrfurcht nennst,/ Elftausend Jungfernschaften, all' in Knochen,/ Die größte Zahl von der je Fleisch gesprochen.“
Polidori und Byron reisen am 10. Mai Richtung Bonn weiter. Besonders Byron ist von der nun beginnenden Rheinlandschaft hingerissen, berichtet von ihr im dritten Teil seiner ungemein populären Verserzählung Childe Harold's Pilgrimage und gibt damit den Startschuss für die Rheinbegeisterung der Engländer. Ziel der Reise ist schließlich der Genfersee, wo sie auf den Dichter Percy Bysshe Shelley und seine spätere Ehefrau Mary Godwin treffen. Hier schlägt Byron angesichts des schlechten Wetters vor, man könne sich doch Gruselgeschichten ausdenken und einander erzählen. Das Resultat ist nicht nur Mary Shelleys „Frankenstein“. Byron selbst, der im katholischen Köln und spätestens auf dem Weg nach Bonn überall auf Kruzifixe gestoßen war, dachte sich eine Vampirgeschichte aus.
Er selbst sollte sie nie beenden. Dafür arbeitete Polidori an Byrons Idee weiter. Polidoris Erzählung „Der Vampyr“ gilt als eine der ersten Vampirgeschichten der Hochliteratur. Der Blutsauger, der in früheren Geschichten meist als seelenloses Monster geschildert wurde, ist er hier plötzlich ein charismatischer, kultivierter Aristokrat namens Lord Ruthven. Zeitgenossen wollen in der Figur von Polidoris Vampir den berüchtigten Lord Byron höchstpersönlich wiedererkannt haben.