Henry van de Velde wollte eine fundamentale Erneuerung der angewandten Kunst. Kurz vor der Werkbundausstellung 1914 in Köln kam es zum Eklat. Anselm Weyer folgt seinen Spuren.
Kölner SpurensucheAls es vor dem Werkbund 1914 in Köln zum großen Knall kam
Mit schlechter Laune saß Henry van de Velde im Hotel Ernst am Kölner Dom. Zwar hatte er endlich ein Theater nicht nur entwerfen, sondern auch realisieren dürfen: Das Theater für die Werkbundausstellung 1914 am Deutzer Rheinufer, die in wenigen Tagen eröffnet werden sollte. Da flatterte ihm plötzlich ein Thesenpapier von Hermann Muthesius auf den Schreibtisch, in dem dieser versuchte, den Werkbund auf künstlerische Thesen festzulegen, die van de Velde so gar nicht teilte. Die berühmte Werkbund-Diskussion wurde losgetreten, in der über die Zukunft der Angewandten Kunst gestritten wurde.
Henry van de Velde war damals als so eigenwilliges wie einflussreiches Multitalent berühmt und berüchtigt, teils auch als arrogant verschrien. Der Maler hatte neuartige Designs für quasi alle Alltagsartikel vorgelegt, von Tischen über Stühle, Schränke, Wasserkessel, Geschirrservice und Besteck bis hin zu Stoffen. So wollte der 1863 geborene Antwerpener „die Welt von der Hässlichkeit befreien“.
Über Geschmack lässt sich nicht streiten?
Nun gibt es aber natürlich darüber, was hässlich ist oder nicht, verschiedene Meinungen. Henry van de Velde konnte nichts anfangen mit dem vorherrschenden Historismus mit seiner üppigen und reich verzierten Formgebung. Weniger war für ihn mehr. Mit dieser Maxime überzeugte er eine immer größere Käuferschaft. Deshalb lud ihn 1901 auch Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar höchstselbst nach Weimar, um der dortigen Keramik-Industrie frischen Wind zu verleihen.
Henry van de Velde kam, sah und krempelte alles um. Nicht nur mit äußerst erfolgreichen Entwürfen. Er überzeugte den Großherzog auch, dass die handwerkliche Ausbildung unzureichend sei. Das mündete 1908 in der Gründung der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule Weimar – mit Henry van de Velde als Direktor und Architekt der Gebäude. Als Walter Gropius für ihn übernahm, benannte er die mit der Kunstschule fusionierte Einrichtung um in „Bauhaus“.
1907 war van de Velde Gründungsmitglied des Werkbunds, einer „Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen“, die sich der „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk, durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen“ verschrieb.
Meilenstein der Neues Architektur
So sollte dann Henry van de Velde dank Unterstützung von Konrad Adenauer auch bei der berühmten Werkbundausstellung 1914 am Deutzer Rheinufer das Theater entwerfen. Es stellt, so konstatiert der selbstbewusste Belgier später, „zusammen mit dem von Walter Gropius auf der Ausstellung errichteten Fabrikgebäude einen Meilenstein in der Entwicklung der von belgischen, holländischen, französischen und deutschen Vorkämpfern geschaffenen Neuen Architektur dar“.
Kurz vor der die Ausstellung begleitenden Werkbundtagung am 2. Juli 1914 sah er sich aber plötzlich mit einem Problem konfrontiert. Einige Mitglieder des Werkbundes nämlich, berauscht von den Möglichkeiten industrieller Produktion, postulierten plötzlich, dass die Kunst fast schon an ihr Ende gekommen sei, allen voran Hermann Muthesius. „Für ihn war der Zeitpunkt gekommen, an dem die individuelle Arbeit aufzugeben und an ihre Stelle allgemeine Regeln, ein Kanon für die architektonische und kunstgewerbliche Produktion zu setzen seien“, erinnert sich van de Velde in seiner Autobiografie. „Muthesius hatte die Absicht, bei der Kölner Werkbundtagung die Zustimmung zur ,Typisierung' als Leitgedanken für die künftige Arbeit des Werkbundes zu erreichen.“
Henry van de Velde schluckte. Wo bleibe denn die Individualität im Werkbund? Wo die Handschrift des Künstlers? Der Belgier scharte rasch Gleichgesinnte um sich, um eine Gegenposition zu formulieren. „Am Abend nach der Eröffnungssitzung trafen sich meine Freunde Obrist, Endell, Osthaus, Breuer, Taut und ich in der Halle des Hotels Excelsior, wo wir alle wohnten“, schreibt van de Velde. „In einem kleinen Saal, den uns der Hoteldirektor zur Verfügung stellte, brachte ich die zehn knapp gefassten, radikalen Gegenleitsätze zu Papier.“
Werkbundausstellung 1914 in Köln: Dann kam es zum Eklat
Am folgenden Tag kam es zur Konfrontation. Nachdem zunächst Muthesius seine Thesen vortrug, denen zufolge nur „mit der Typisierung, die als Ergebnis einer heilsamen Konzentration aufzufassen ist, wieder ein allgemein geltender, sicherer Geschmack“ entstehen könne, trat van de Velde ans Pult. „Draußen tobten Blitz und Donner“, berichtet van de Velde. „Nach einer kurzen, scharfen Einleitung verlangte ich für die Künstler des Werkbundes das Recht zu freier, unabhängiger, schöpferischer Arbeit, die durch kein einengendes Programm bedroht werden dürfe. Die Idee der Beschränkung auf Typen, die von einer Kommission festgelegt werden sollten, bezeichnete ich als das traurige, verabscheuungswürdige Ende einer Vereinigung, die von uns alles erwarten dürfe, nur keine Entmannung.“
Wegen des draußen wütenden Gewitters musste er die Stimme heben, was die dramatische Wirkung seiner Rede wohl vergrößerte – zumal Donnerschläge etlichen seiner Sätze Nachdruck verliehen. Die anschließende Aussprache endete im Aufruhr. Eine Spaltung des Werkbunds drohte. Da ergriff nochmals Muthesius das Wort. Er hielt, so van de Velde, „eine lange, resignierte Schlussrede, bei der man beinahe Mitleid mit ihm empfand“. Er nahm seine Vorschläge zurück. Die Kuh war vom Eis. „Die Kölner Tage bestätigten meine Rolle als Haupt der Bewegung in Deutschland“, triumphierte van de Velde.
Aber der Triumph währte nicht lange. Wen kümmerte noch der Streit zwischen radikalen Modernisten und progressiven Kunsthandwerkern, als im September 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach? Das Militär nahm das Gelände der Werkbundausstellung in Beschlag. Auch van de Veldes geliebtes Theater, das bald abgerissen wurde. Dem belgischen Künstler wurde zunächst der Pass eingezogen, später sein Vermögen beschlagnahmt. Nach Stationen in der Schweiz, in den Niederlanden und Belgien, starb er 1957 in Zürich.