Sexueller Missbrauch im Sport72 Opfer berichten in Studie von ihrem Schicksal
- Eine Studie analysiert die Berichte von 72 Menschen, die Missbrauch im Sport erfahren haben.
- Die Schicksale machen deutlich: Es fehlt an Aufklärung und Unterstützung für die Betroffenen.
Simon schreit nicht, als sein Trainer ihn zum ersten Mal missbraucht. Er ist 14 Jahre alt und auf Wanderfahrt mit seinem Ruderverein. Dass er sich mit dem Mann Mitte 20 ein Zelt teilt, kommt ihm nicht komisch vor. „Ich habe mir damals nichts dabei gedacht, da mein Trainer eine wichtige und vertrauensvolle Person für mich war.“ Überhaupt sei er ihm dankbar gewesen, dass er sich um ihn gekümmert hat: Simon ist ein schüchterner und ängstlicher Junge. „Mein Trainer zeigte sich mir gegenüber besonders fürsorglich und nahm mich beispielsweise häufiger auf den Schoß.“ Den anderen im Sportverein sei seine Rolle zwar schon aufgefallen, aber „es hat niemand etwas dagegen gesagt.“
Dann wird es Nacht auf der Wanderfahrt. „Wir gingen beide zu Bett, und es ging mir gut damit.“ Bis Simon davon aufwacht, dass der Trainer ihn halb ausgezogen hatte und „mit seinem Riesenkörper auf mir lag“. Er vergeht sich an dem Jungen, zwingt Simon, auch an ihm sexuelle Handlungen vorzunehmen. Der Mann tut ihm weh. „Ich hatte Angst und habe es dann einfach über mich ergehen lassen.“ Auch nach der Reise missbraucht ihn der Trainer weiter. Simon entzieht sich ihm, indem er den Verein verlässt. „Ich gaukelte den anderen vor, dass ich keine Lust mehr auf den Rudersport hätte. Das hat dann niemand weiter hinterfragt.“
Flashbacks Jahre später bringen die Erinnerungen zurück
Lange denkt Simon nicht mehr an den Trainer, die Wanderfahrt und die Dinge, die er ihm angetan hat. Erst als er krank wird und eine Psychotherapie beginnt, kommen die Erinnerungen zurück. Und damit beginnen auch die Beschwerden: „Neben Flashbacks mit dem Gefühl, jemand liegt mit aller Gewalt und Macht auf mir und ich drohe zu ersticken, leide ich auch unter Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.“ Auch ein Bandscheibenvorfall und starke Scham- und Schuldgefühle belasten ihn. Heute ist er zu 50 Prozent schwer behindert. Er macht sich Vorwürfe, er habe wegen seiner Homosexualität „etwas ausgestrahlt, was den Täter animiert haben könnte“. Dass das keine Legitimation für sexuellen Missbrauch ist, weiß er durch die Therapie heute. „Die Schuldgefühle bleiben aber Teil meines Lebens.“
Simon hat sich entschieden, seine Geschichte der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Verfügung zu stellen. Er und insgesamt 72 Betroffene, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, teilen ihre Erfahrungen in der Studie zum Thema „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports. Es ist die erste Studie, die sich solchen Vorkommnissen auf wissenschaftlicher Ebene widmet. Studienleiterin Prof. Dr. Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln sagt bei der Vorstellung der Ergebnisse: „Die Berichte der Betroffenen sind erschütternd und lassen ein Bild vom Sport entstehen, das nicht zu seinem positiven Image passt.“ Die Befragungen haben zum Teil viele Stunden gedauert. Stunden, in denen die Betroffenen von „schwerem sexuellen Missbrauch bis hin zur Vergewaltigung unter Ausnutzung eines Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnisses berichten.“
Täter meist Männer: Hohe Reputation schützt sie
Von den Betroffenen seien rund zwei Drittel weiblich und ein Drittel männlich. Die Täter meist der Trainer, Betreuer oder Übungsleiter – davon zu 93 Prozent Männer. In der Studie heißt es, dass die Täter in vielen Fällen auch außerhalb des Sports eine hohe Reputation hatten, etwa Ärzte oder Anwälte waren. „Dies erschwerte es den Betroffenen, sich aus der Situation zu befreien, die Personen zu hinterfragen, sie zu konfrontieren und sich anderen gegenüber zu offenbaren“, so die Studie.
„Manche Täter führten auch mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig, um so eine Konkurrenzsituation zu schaffen und sexuelle Gefälligkeiten zu erlangen“, sagt Rulofs.
So wie bei Tina, deren Geschichte in der Studie ebenfalls erzählt wird. Mit 11 Jahren tritt sie dem Turnverein bei. Der Trainer ist zeitgleich auch Abteilungsleiter im Turnen und Jugendwart. Beliebt sei er gewesen, schildert Tina. „Alle himmelten ihn an, schwärmten für ihn und konkurrierten um seine Gunst und seine Aufmerksamkeit.“ Gerüchte, dass er „ein Kinderficker“ sei, habe es damals schon gegeben. Nur keine Konsequenzen. Und so schafft es der damals Anfang 20-Jährige, die Mädchen nach und nach an „sexuelle Verhaltensweisen“, wie Tina es schildert, heranzuführen. Vieles wurde „normal“ für die Mädchen: Umarmungen und Küsse zur Begrüßung, private Treffen oder bei dem Trainer auf dem Schoß zu sitzen. „Wir duschten gemeinsam und umarmten uns in der Dusche. Das war normal für uns.“ Bis viele von ihnen Sex mit ihm haben, manchmal mit mehreren. „Es entstand ein Konkurrenzverhältnis unter uns Mädchen, denn jede wollte dem Trainer am nächsten sein und in seiner Gunst möglichst weit oben stehen“, sagt Tina.
„Ein komisches Gefühl“ bestätigt sich
Bis sie 17 ist, hält diese Situation an, dann zieht Tina zum Studieren weg. Jahre später wird ihr im Gespräch mit einem Freund klar, dass das, was sie mit ihrem Trainer erlebt hat, Missbrauch war.
Dabei habe es auch damals schon Anzeichen gegeben: Tinas Schwester und Mutter haben „ein komisches Gefühl“ bei dem Trainer. Als die Mutter die Geschäftsführerin des Vereins darauf anspricht, konfrontiert die den Trainer, der alles leugnet. Auch als Tinas Mutter ihn direkt anspricht. „Er wich aus, mit der Begründung, dass er zwar große Gefühle für mich hätte, aber niemals mit mir in meinem Alter etwas Körperliches anfangen würde.“ Als eine Teamkollegin den Missbrauch offenlegen will, bekommt sie ein Jahr lang Wettkampfverbot.
Bettina Rulofs sagt, es sind vor allem die Strukturen, die Missbrauch im Sport begünstigen. Das seien hierarchische Geschlechterverhältnisse, Abhängigkeit vom Trainer oder aber im Breitensport auch die Idealisierung von Ehrenamtlichkeit. „Viele Vereine wollen nicht wahrhaben, dass auch Ehrenamtliche sexuelle Gewalt ausüben können.“ Ein weiteres Problem seien die sogenannten „Bystander“, die missbräuchliches- und Fehlverhalten zwar beobachten, aber nicht dagegen vorgehen – wie eine Legitimierung für die Täter.
Wie aber kann dem Problem des sexuellen Missbrauchs im Sport begegnet werden? Prof. Dr. Heiner Keupp von der Aufarbeitungskommission mahnt: „Hier darf es nicht so laufen wie bei der katholischen Kirche: Dass die Verantwortlichen sich nämlich in die Prävention flüchten.“ Er fordert eine radikale Aufarbeitung der Vergangenheit, „auch, wenn sie schmerzhaft ist.“ Der Sport sei die wichtigste „Sozialisationsinstanz“ für junge Menschen, die beliebteste Freizeitaktivität von Kindern. „Der Sport hat eine romantisierende Sichtweise über sich in die Welt gesetzt, aber die Studie zeigt, dass Gemeinschaft und sexualisierte Gewalt auch hier eng verknüpft ist.“ Dessen müssten sich die Vereine und Verbände bewusst sein. „Der Sport kann seine Bedeutung nur dadurch glaubhaft machen, dass er das Thema aufarbeitet“, sagt Heupp.
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„Das darf doch alles nicht wahr sein“, sagt Angela Marquardt, Mitglied des Betroffenenbeirats der Aufarbeitungskommission. Die Studie habe die Alltagsrealität im Sport aufgezeigt. „Ich sitze auch lieber jubelnd vor dem Fernseher, aber diese Seite gehört eben auch zum Sport dazu.“ Deswegen brauche es konkrete Anlaufstellen für Betroffene wie etwa das von der Bundesregierung geplante „Safe Sport Center“. Dass der organisierte Sport in Form des Deutschen Olympia Sportbund (DOSB) sich an dessen Finanzierung aber nicht beteiligen will, sondern hier auf den Bund verweist, ist für Marquardt ein Unding. „Der Sport kann sich nicht aus der Verantwortung ziehen“ Sie fordert schonungslose Aufklärung und Unterstützung vom organisierten Sport. „Die Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren, kriegen lebenslänglich. Ihr Leben ist für immer davon beeinflusst.“
Das sagt auch Simon, der trotz des Missbrauchs durch seinen Trainer im Ruderverein heute nach eigener Auskunft eine glückliche Ehe führt. „Es wird nie so sein, dass ich irgendwann morgens aufwache und sagen kann: „Okay, das Thema ist jetzt durch.“