Vor 50 Jahren schrieben Günter Netzer und Hennes Weisweiler das berühmteste Kapitel ihrer Hassliebe - im DFB-Pokalfinale 1973.
Die Diva und der DickschädelAls Netzer sich vor 50 Jahren selbst einwechselte
Der eine war der Star, der sich selbst einwechselte. Der andere war der Trainer, der sich mit den Stars stritt. Vor 50 Jahren schrieben Günter Netzer und Hennes Weisweiler das berühmteste Kapitel ihrer Hassliebe - im DFB-Pokalfinale, das damals wie heute als das beste aller Zeiten gilt. Das Duell der rheinischen Rivalen aus Mönchengladbach und Köln im Düsseldorfer Rheinstadion begann mit einem Pfeifkonzert – vor dem Anpfiff.
Es waren die Gladbacher, die es nicht fassen konnten, dass Günter Netzer nicht dabei war. Der Star fehlte, der geniale Kopf der Europameister von 1972, der Ballkünstler und Spiellenker, die Diva, der man seinen Launen verzieh, weil er so brillant Fußball spielte auf der Reservebank, und das in seinem allerletzten Spiel für die Borussia. Nicht berücksichtigt von dem sturen Trainer, der den Wert des Spielmachers so beschrieben hatte: „Ohne Netzer sind wir eine gute Mannschaft. Mit ihm sind wir genial.“
Und sich dennoch mit ihm fetzte und herausforderte wie mit dem berühmten Satz „Abseits ist, wenn das lange Arschloch zu spät abspielt.“ Zehn Tage vor dem Finale war der Sensationstransfer von Netzer zu Real Madrid bekannt geworden und füllte die Zeitungsseiten im ganzen Land. In Spanien war gerade die Ausländersperre gefallen, erstmals seit 1962 durften die Vereine wieder internationale Stars verpflichten. Und das stolze Real, gerade gedemütigt durch den Titelgewinn des Lokalrivalen Atletico, wollte eine Duftmarke setzen - um jeden Preis.
Der war hoch: 1,3 Millionen DM Ablöse kassierte die Borussia, eine Million DM Handgeld soll Netzer kassiert haben, seine Jahresgage: 350000 DM. Heute lächerlich, damals selbst für einen Star wie Netzer eine stolze Summe. Und diesen Mann stellte Weisweiler im Pokalfinale nicht auf?
Schicksalsschlag und Wechsel zu Real Madrid
Nach zehn Jahren einer Zusammenarbeit, die ihr persönliches Verhältnis zwar zu einer Hassliebe werden ließ, die aber Sternstunden des Fußballs erzeugt und einen Provinzklub zu eine der besten Adressen des Weltfußballs gemacht hatte? „Es gab objektiv gute Gründe, mich nicht aufzustellen“. So schreibt Netzer in seiner Biographie in der ihm eigenen Ehrlichkeit. Viel schwerer als der Wirbel um den Wechsel nach Madrid wiegt der Tod seiner Mutter Barbara neun Tage vor dem Finale.
Netzer setzt eine knappe Woche mit dem Training aus; er ist nicht fit und plagt sich mit einer Verletzung. Ihn ärgert, dass Weisweiler ihn gar nicht beachtet, nicht mit ihm spricht. Der Trainer, dem man wegen seines Dickschädels und seiner polternden Art früh den Spitznamen „Dä Buur“ (der Bauer) verpasst hat, ist sauer, dass ihn sein Star nicht in die Wechselpläne eingeweiht hat. Erst am Vormittag des Finaltages sagt beim Spaziergang im Trainingslager in Süchteln zu Netzer: „Ich werde dich nicht aufstellen.“ Netzer antwortet: „Das ist eine mutige Entscheidung.“
Dann geht der Kapitän auf sein Zimmer, packt seine Tasche und verabschiedet sich von seinen Teamkollegen: „Ich geh´ dann mal. Ich wünsche euch viel Glück.“ Die Mitspieler sind entsetzt, versuchen ihn zu überreden. Sein Freund Berti Vogts zeigt Verständnis; er weiß schon, dass Netzer nicht spielen soll, weil Weisweiler ihm das Kapitänsamt übertragen wollte. Vogts lehnt das ab; die Binde geht an Herbert Wimmer.
Es ist Jupp Heynckes, der Netzer überredet: „Setz dich zwischen die Ersatzspieler, bitte sei einfach da. Wenn der Trainer dich nicht braucht – wir brauchen dich.“ Netzer bleibt und fährt ins Rheinstadion, aber nicht im Mannschaftsbus, sondern im eigenen Auto, einem Ferrari Daytona. Kein Einzelfall, schon bei dem einen oder anderen Auswärtsspiel hat er dieses Privileg in Anspruch genommen. Am Nachmittag sitzt er am Ende der Gladbacher Ersatzbank, so weit wie möglich von Weisweiler entfernt.
Netzer verweigert erst Einsatz – und wechselt sich dann selbst ein
Er sieht ein Finale zweier bedingungslos stürmender, technisch brillanter Mannschaften mit Torhütern, die über sich hinauswachsen. Zur Pause steht es 1:1, Weisweiler lässt dem Star mitteile, dass er sich bereit machen soll zur Einwechslung. Doch Netzer weigert sich: „In diesem Spiel kann ich nicht helfen. Besser können wir auch mit mir nicht spielen.“ Tausende auf den Rängen rufen seinen Namen – und pfeifen, als die zweite Halbzeit ohne ihn beginnt. 1:1 – nach 90 Minuten sinken etliche Spieler entkräftet auf den Rasen.
Netzer spricht mit Christian Kulik. Der keucht: „Ich kann nicht mehr gehen, ich kann nicht mehr laufen, ich kann gar nichts mehr.“ Netzer zieht die Trainingsjacke aus, da geht schon ein Raunen durch die Massen. Im Vorbeigehen sagt er zu Weisweiler: „Ich spiele dann jetzt.“ Der Star wechselt sich selbst ein, die Diva fordert den Dickschädel heraus. Erst Arbeitsverweigerung, dann Selbsteinwechslung – ein unerhörter Vorgang. Drei Minuten sind in der Verlängerung an diesem heißen Samstag gespielt, drei Minuten, in denen Netzer – abgesehen vom Anstoß – nicht am Ball gewesen ist.
Netzer trifft zum Sieg im Pokalfinale gegen Köln
Dann übergibt Berti Vogts ihm den Ball, zehn Meter in der Kölner Hälfte; es sieht aus wie Aufforderung: „Hier – nun mach!“ Und Netzer macht, schüttelt mit einer typischen Drehung einen Gegner ab, zieht das Tempo an, spielt diagonal auf Rainer Bonhof, startet durch Richtung Strafraum, bekommt den Ball zurück und schießt den Ball direkt mit dem linken Fuß aus 14 Metern in zum 2:1-Endstand den linken Winkel des Kölner Tores.
Sein Jubelsprung mit Drehung in die Arme von Jupp Heynckes schließt diesen legendären 13-Sekunden-Schnipsel aus dem kollektiven Fußball-Gedächtnis wie der orkanartige Schrei aus 70000 Kehlen. Der Ball ist ihm über den Spann gerutscht, der Künstler hat ihn nicht richtig getroffen. Später lacht er darüber: „Das war das größte Glück meiner Laufbahn.“
Am Abend wird gefeiert, erst im Düsseldorfer Hotel Intercontinental beim offiziellen Bankett, wo Netzer und Weisweiler kein Wort wechseln, dann in der Kaiser-Friedrich-Halle in Mönchengladbach mit den Fans und in der Nacht in Netzers Diskothek Lovers Lane. In seiner Biographie hat es der King, wie seine Teamkollegen ihn nannten, so beschrieben: „Wir standen im Lovers Lane, wir tranken. Weisweiler war nicht da. Aber mein Vater. Ohne meine Mutter. Es flossen Tränen. Drei Tage später flog ich nach Madrid.“