Bayer 04 Leverkusen steht kurz vor seiner ersten deutschen Meisterschaft, nach einer Saison voller Siege und keiner Niederlage. Die Fans sind euphorisch und planen große Feierlichkeiten.
„Vizekusen“ adéLeverkusen-Fans fiebern dem Titel entgegen – Makel des ewigen Zweiten endlich tilgen
Deutscher Meister Bayer 04 Leverkusen – die Fans können es kaum noch erwarten. Sie dichten bereits die geliebte Stadionhymne „Wir steh'n zu dir“ von Peter Lorenz um. Dort heißt es im Original „Deutscher Meister werden wir beim nächsten Mal“. Beim 2:0-Sieg am Donnerstag im Europa-League-Viertelfinal-Hinspiel gegen West Ham haben die Fans „dieses Mal“ gesungen. Und so muss ihre Lieblingshymne wohl bald umgeschrieben werden, wenn Bayer 04 Meister wird.
Hämische Gesänge: „Vizekusen, Vizekusen“
„Vizekusen, Vizekusen“ – jeder Spieler von Bayer 04 Leverkusen kennt diese hämischen Gesänge aus den gegnerischen Fankurven. Und das Schlimme für die Kicker der oft auch als Werksteam des Bayer-Konzerns bezeichneten Elf: Bis heute stimmt der Spruch. Denn Leverkusen war noch nie Deutscher Fußballmeister. Aber zwischen 1995 und 2002 waren sie fünfmal Zweiter. Witze wie dieser wabern seit Jahren durch das Fußballvolk: „Ein Leverkusen-Fan fragt Gott: Wann werden wir endlich Meister? Und Gott antwortet: Oha, da bin ich nicht mehr im Amt.“ Jede Spielergeneration von Bayer 04 hätte viel darum gegeben, diesen schmerzenden Makel endlich durch einen Titel zu tilgen.
An diesem Wochenende könnte es soweit sein. Spätestens wenn Leverkusen sein Heimspiel gegen Werder Bremen am Sonntag gewinnt, ist der zwischen den Traditionsvereinen aus Köln, Gladbach und Düsseldorf am Rhein gelegene Club, zum ersten Mal Deutscher Fußballmeister. Völlig verdient, wie Sportjournalisten, objektive Fußballanhänger, ach eigentlich das ganze Volk diese grandiose Rekordsaison einschätzen. 76 Punkte nach 28 Spieltagen, noch kein einziges Spiel in der Meisterschaft, im DFB-Pokal und in der Europa League verloren – alles ist angerichtet für den ganz großen Coup: die Meisterschaft sowieso, wenn nicht am Sonntag, dann an einem der kommenden Wochenenden; wahrscheinlich auch das Double (Meisterschaft und Pokal), denn im Pokalfinale gegen den Zweitligisten Kaiserslautern ist Bayer 04 turmhoher Favorit; oder sogar der Dreifach-Triumph mit dem Gewinn der Uefa Europa League. In allen Fällen, insbesondere aber mit der Deutschen Meisterschaft, verschwindet „Vizekusen“ in der Mottenkiste und die seit Jahrzehnten verwundeten Seelen der Spieler von Bayer 04 – aktive und ehemalige eingeschlossen – finden endlich Heilung.
Anhänger sind ungläubig euphorisch
Was sagen die Fans? – Noch halten die Anhänger eine Meisterschale aus Pappe hoch. Aber schon am Sonntag sollte feststehen, dass nach dem letzten Spiel der Saison am 18. Mai gegen den FC Augsburg die richtige „Schale“, so der griffige Spitzname der Trophäe, von Spielern und ihren Fans bejubelt wird. Die Anhänger der diesjährigen „Übermannschaft“ können es kaum erwarten nach all den Jahren der Entbehrungen. Sebastian Gastecki (46) vom Fanclub „Red Black International“ hat seit 1988 alles hautnah miterlebt. „Wir haben nachdem, was in den 2000er Jahren alles passiert ist, ehrlicherweise nicht mehr daran geglaubt, dass wir so eine Saison erleben werden.“ Als beim letzten Auswärtssieg dann die Nachricht von der Bayern-Niederlage kam, seien nicht nur bei ihm die Tränen gekullert, beschreibt Gastecki die Emotionen im Fanblock. Wenn es denn am Sonntag passieren sollte und Leverkusen vorzeitig Deutscher Meister werde, dann „werden wir die Nacht durchfeiern“. Zuhause habe er schon Vorkehrungen getroffen, damit die Kinder am Montag zur Schule kommen, und sein Arbeitgeber wisse auch Bescheid, erzählt der leidenschaftliche Leverkusen-Fan. Die große Party steige dann natürlich erst nach Saisonende. Was da alles passieren wird, könne er noch nicht sagen. „Aber Leverkusen wird es krachen lassen, das steht fest“, verspricht Gastecki.
Das sieht Leo (30) vom Fanclub „Skunks Leverkusen“ genauso. Er trifft sich vor und nach den Spielen regelmäßig mit Freunden in der „Stadioneck“-Fußballbar. „Wenn es passiert, wird das die größte Party, die die Stadt je erlebt hat.“ Der gebürtige Rheinländer beschreibt seine Gefühle gerade mit „unfassbar euphorisch“, aber auch mit einer großen Ungläubigkeit auf das, was in dieser Saison passiert. „Weil es die erste Meisterschaft wäre, wird das unglaublich emotional werden und so auch nie wiederkommen.“ Was genau „abgehen wird“, könne er nicht sagen. „Wir lassen das einfach auf uns zukommen und werden genießen.“
Dreimal Zweiter in einer Saison
Es war die Saison 2001/02, nach der dem Verein die Marke „Vizekusen“ anhaftete. Er wurde ihn danach auch nicht mehr los. Dreimal Zweiter: Vizemeister hinter Dortmund, danach gegen Schalke 04 im Pokalfinale 2:4 verloren und schließlich noch gegen die Startruppe von Real Madrid durch ein Tor von Zinédine Zidane mit 1:2 im Champions-League-Finale unterlegen. Es war die erfolgreichste Saison von Leverkusen – bis heute. Dennoch stand sie für über zwei Jahrzehnte für deren Unfähigkeit, Erster zu werden. Der Bayer-Konzern hatte sich die Marke „Vizekusen“ im selben Jahr beim Patentamt schützen lassen. Dieses Patent können sie nun guten Gewissens an den Meistbietenden verkaufen.
Ein 75-jähriger gebürtiger Brühler erinnert sich sehr gut an diese Zeit der zweiten Plätze: Bayer Leverkusens Ex-Manager Reiner Calmund. Seine Antwort auf die Frage, ob nun die Zeit von „Vizekusen“ endlich vorbei ist: „Ich bin ja happy, wie die Mannschaft spielt. Aber Sie können mich für bekloppt erklären, ich feiere erst, wenn die Meisterschaft wirklich eingetütet ist.“ „Calli“, wie in jeder im Verein nennen durfte, ist somit genauso vorsichtig wie die Vereinsführung der Leverkusener. Er sei ein gebranntes Kind und habe alles erlebt. „Wir sind 2002 als Tabellenführer nach Unterhaching gefahren, hatten mit Emerson und Ballack das beste und torgefährlichste Mittelfeld der Liga und den ,Schwatten' (Anmerkung der Red.: Torjäger Ulf Kirsten) vorne drin. Trotzdem ging das Ding in die Hose und Dortmund wurde Meister.“ Danach verliere man in derselben Saison auch noch die beiden Finals, obwohl man insbesondere im Champions-League-Finale gegen Madrid die bessere Mannschaft war. „Ab da hatten wir den Stempel ,Vizekusen'.“ Dabei sei dieses „Loser“-Image bei diesen Leistungen Blödsinn, ärgert sich Calmund noch heute.
Als Ex-Manager und Kultfigur erinnert sich Calmund natürlich auch gerne an die Titel, die Leverkusen holte. Es gab nämlich zwei. Das war noch vor „Vizekusen“ und ist lange her: „1988 haben wir im Uefa-Cup (Anmerkung d. Red.: heute Europa League) erst den FC Barcelona, dann Feyenoord Rotterdam und im Halbfinale Werder Bremen weggehauen und dann diese grandiose 0:3-Aufholjagd im zweiten Finalspiel geschafft mit unserem Elfmeter-Helden Rüdiger Vollborn im Tor.“ Am Samstag nach dem Rückspiel gegen Espanyol Barcelona habe es die große Sause mit Rundfahrt durch die Stadt und Empfang auf dem Rathausplatz gegeben. „Uns haben rund 5000 Fans zugejubelt. Damals gab es noch einen Rathausbalkon“, erinnert sich Calmund.
Auch der ehemalige Rundschau-Sportredakteur Joachim Schmidt war damals dabei: „Die Party fand in der damaligen Wilhelm-Dopatka-Eissporthalle gegenüber dem Stadion statt. Viel vorbereitet wurde nicht – auch weil Leverkusen das Hinspiel 0:3 verloren hatte.“ Schmidt schätzt, dass rund 500 Fans dabei waren, die auch bei der Organisation mithalfen. Calmund spricht von 800 bis 900. „Ich weiß noch, dass die Bayer-Big-Band für die Musik sorgte und das Colonia Duett einen Auftritt hatte.“ Gefeiert wurde bis in den Morgen, was auch der Ex-Manager bestätigt. Am Ende musste Trainer Ribbeck mit einer Kelle den Schampus aus dem Pokal trinken.
Beim letzten Triumph 1993 fielen die Feiern kleiner aus. Nach dem mühsamen Pokalfinalsieg gegen die Amateure von Hertha BSC Berlin ging es Richtung Tiergarten ins Grand Hotel Esplanade. Völlig übermüdet kamen die Spieler am Tag danach mit einem Linienflugzeug im Rheinland an. Das Bild des aus dem Cockpit des Fliegers winkenden Siegtorschützen Ulf Kirsten ist in Erinnerung geblieben. Den Siegerempfang gab es wieder am Rathausplatz mit der Präsentation des DFB-Pokals. Und dann kam „Vizekusen“ – bis jetzt.
Das sagen Verein und Stadt
Mit Beginn der laufenden Saison stand Bayer 04 Leverkusen bei 34.000 Mitgliedern. „Beim jüngsten Heimspiel gegen 1899 Hoffenheim am 30. März haben wir das 50.000. Mitglied geehrt“, teilt Vereinssprecher Dirk Mesch mit. Alle Heimspiele seit Saisonbeginn waren im Heimbereich ausverkauft. „Und seit Monaten melden wir bei den Auswärtsspielen hinsichtlich der von den gegnerischen Vereinen bereitgestellten Fanblocks: Ausverkauft!“ Auch beim Trikotverkauf seien die Absatzzahlen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gestiegen, genaue Zahlen gebe man aber nicht heraus. „Das neue schwarz-rote Heimtrikot mit dem Kreuz auf der Brust hat den Nerv unserer Fans getroffen“, freut sich Mesch. Zur möglichen Meisterfeier äußert sich der Verein noch nicht.
Von der Stadt Leverkusen hört man zu den mit großer Wahrscheinlichkeit anstehenden Feiern ebenso noch nichts. Die Stadt teilte auf Anfrage der Rundschau mit, dass man es „zwar kaum erwarten“ könne, die Mannschaft als Meister zu empfangen. Aber in enger Absprache mit Bayer 04 Leverkusen werde man nicht über Pläne zu Feierlichkeiten sprechen, bis es soweit ist.