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Zweiter Weltkrieg in Neunkirchen-SeelscheidGefangen zwischen den Fronten

Lesezeit 4 Minuten

Neunkirchen-Seelscheid – „Hands up!“ – der 15-jährige Paul blickte ängstlich in die Mündung eines entsicherten Armeegewehres. Die Amerikaner waren im Begriff, die Ortschaft Wiescheid zu erobern. Da Paul eine verdreckte blaue Winterbluse der Hitlerjugend trug, war er mehr als verdächtig. „Kleidung war gegen Ende des Krieges knapp, man trug, was man auf die Kleiderkarte in den wenigen Geschäften noch kaufen konnte“, erinnert sich Paul Schmidt. Weil seine Familie den Nazis stets kritisch gegenüber gestanden hatte und sogar von Parteimitgliedern bedroht wurde, nutzt er ahnungslos die völlig mit Erde verschmierte Winterbluse. Der Jugendliche kam zusammen mit Peter Kenfenheuer in Gefangenschaft. Der Beamte war verdächtig, weil er eine Postuniform trug. „Die Amerikaner dachten, er sei ein ganz besonderer Wehrmachtsoffizier“, sagt Paul Schmidt.

„Mit Kolbenstößen und lauten Rufen wurde ich zum Haus von Käthe Herchenbach getrieben“, erinnert sich der Zeitzeuge. Eine deutsche Flakbatterie schoss in Richtung der Amerikaner. „Dann passierte etwas, das ich als das schlimmste Ereignis der damaligen Zeit in Erinnerung habe“, so der heute 85-Jährige. Die US-Soldaten seien von ihren Vorgesetzen angewiesen worden, rund 30 Gefangene auf ein Feld zwischen dem Haus Herchenbach und dem Wald in Richtung Schöneshof zu bringen. „Die deutsche Flakbatterie hatte das Schießen gesteigert“, berichtet Paul Schmidt, „die Granaten detonierten rund 50 Meter über dem Erdboden, verletzten amerikanische Soldaten und die Gefangenen. Wir mussten uns auf das freie Feld begeben und kamen uns vor wie menschliche Schutzschilde.“ Schmidt überlebte die bedrohliche Situation. Einige wurden von Granatsplittern getroffen, jedoch von den Sanitätern der Amerikaner versorgt. Nach seiner Erinnerung wurde nur ein deutscher Gefangener so schwer verletzt, dass er später starb.

Diese Vorfälle ereigneten sich am 9. April 1945. Paul kam nach Hennef-Weldergoven. „Wir mussten die Sieg über eine Pontonbrücke überqueren“, erinnert er sich. Am 10. April wurde er in Weldergoven freigelassen, weil der amerikanische Verhöroffizier ihm glaubte, dass er die Bluse nur aus Not und nicht aus Überzeugung getragen hatte.

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Vier Wochen vorher hatte eine schwere Flak-Batterie der Wehrmacht Stellung auf dem Höhenrücken „Ruppenhardt“ bezogen. Etwa zehn deutsche Soldaten quartierten sich in der Scheune der Familie Schmidt ein. Der Krieg war direkt in das Haus des Jugendlichen nach Wiescheid gekommen. Im Gebäude des heutigen Antoniuskollegs hatte die Wehrmacht einen Hauptverbandsplatz eingerichtet. Auch in der Schule in Schönau wurde im März der Unterricht eingestellt – Platz für Verwundete wurde dringend benötigt. Paul Schmidt hielt sich dort auf und beobachtete, wie verwundete Soldaten von Pferdewagen in das Gebäude getragen wurden. „Aus einem Lastwagen wurde mir durch eine kleine Öffnung im sonst geschlossenen Verdeck ein leerer Konserveneimer gereicht“, berichtet er. „Ich hörte das Wort Water, nahm den Behälter an und brachte ihn gefüllt wieder zurück an den Wagen.

Dankbar strecken sich mir aus der Plane Hände entgegen. Doch der Eimer wurde mir plötzlich von einem deutschen Soldaten aus der Hand geschlagen, der Griff der durstigen Menschen hinter der Plane ging ins Leere.“ Der hilfsbereite Jugendliche wurde daraufhin lautstark von der Wachmannschaft vertrieben. „In Neunkirchen verursachte Artilleriebeschuss in der Nacht zum Ostersonntag größere Schäden“, berichtet Schmidt über die Ereignisse vom 31. März auf den 1. April 1945. „Im damaligen Saale Küpper, heute ist dort das Modehaus Schwellenbach, starben durch das amerikanische Granatfeuer 23 Zwangsarbeiter, andere wurden schwer verletzt.“ Das Grab dieser Menschen findet man noch heute auf dem Gemeindefriedhof.

Plötzlich die Pistole gezogen

Am Sonntag, 8. April, sollte die deutsche Flakbatterie abgezogen werden. Die erwarteten Zugmaschinen trafen jedoch nicht ein. Die Soldaten kamen mit Josef Schmidt ins Gespräch. Paul hörte, wie sein Vater den erschöpften Männern riet, die Geschütze unbrauchbar zu machen und sich bei nächstbester Gelegenheit in Gefangenschaft zu begeben. „Ein Unteroffizier, der scheinbar teilnahmslos dem Gespräch folgte, zog plötzlich seine Pistole und bedrohte meinen Vater“, so die Erinnerung. Es seien Worte wie „Wehrkraftzersetzung“ und „Erschießen“ gefallen. Die Soldaten mussten wieder in ihre Stellung, weil keine Zugmaschine kam. Schon am nächsten Tag kreiste ein amerikanisches Beobachtungsflugzeug über Wiescheid. Bald waren die Amerikaner mit ihren Truppen im Ort.

Der Zeitzeuge beschäftigte sich noch Jahre nach dem Krieg mit den Ereignissen. Paul Schmidt schrieb in den Chroniken des Heimat- und Geschichtsvereins über seine Erlebnisse. Dort ist auch zu lesen, dass im Gebiet der früheren Gemeinde Neunkirchen 23 Männer, 13 Frauen und 11 Kinder durch Kriegseinwirkungen in der Zeit von Januar bis Ende April 1945 den Tod fanden. In diesen Zahlen sind keine Wehrmachtsangehörigen sondern nur Zivilpersonen enthalten. Darunter auch Menschen aus anderen Kommunen, die in der Gemeinde während dieser Zeit auf den Höfen im Bergischen untergebracht waren.