AboAbonnieren

Steigende PreiseArmut nimmt auch im Rhein-Sieg-Kreis deutlich zu

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt

Auch Kinder sind von der zunehmenden Armut betroffen. Oft bekommen sie keine Verpflegung für die Schule mehr.

Rhein-Sieg-Kreis – Sie habe noch eine Packung Toastbrot, Geld für weitere Lebensmittel habe sie bis zum Monatsende keines mehr. Was die junge Frau am 15. eines Monats schilderte, schien Katrin Hagen bis vor kurzem noch unvorstellbar.

Seit Januar 2021 arbeitet sie in der Allgemeinen Sozialberatung des Caritasverbands Rhein-Sieg und beobachtet eine dramatische Zunahme von Menschen, die in akuten Notlagen Hilfe suchen. „Oft sitzen mir Leute gegenüber, die tagelang nichts gegessen haben.“

Dose fürs Schulbrot bleibt leer

Hagen ist überzeugt: „Die Welle baut sich hoch auf.“ Was sich schon am Ende des vergangenen Jahres an Preissteigerungen anbahnte, hat nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine eine gewaltige Wucht entwickelt.

War das Geld bei vielen Hartz-IV-Beziehern schon vorher knapp, so ist jetzt oft bereits Mitte des Monats Ebbe im Portemonnaie. Und dann bleibt bisweilen auch die Dose für das Schulbrot der Kinder leer. Teilweise, so die Sozialarbeiterin Hagen, „ist es ausweglos“.

Neuer Inhalt

In der Allgemeinen Sozialberatung der Caritas kümmern sich   (v.l.) Katrin Hagen, Waltraud Brüggemann, Regina Flackskamp, Barbara Köllmann, Claudia Gabriel und Christa Engel um die Menschen.

Neben den gestiegenen Preisen für Lebensmittel sind es vor allem die hohen Energiepreise, in der Folge steigende Abschläge der Versorgungsunternehmen und Nachzahlungen aus dem Vorjahr, die Einzelne, Paare und Familien in akute Not stürzen. Viele Versorger erhöhten den Abschlag um 30 Euro im Monat auch ohne dass Nachzahlungen fällig wurden. „Das ist nicht tragbar für viele Familien“, betont Katrin Hagen. Nur kurze Entlastung bringe der Pauschalbetrag von 200 Euro, den der Bund auszahle.

Ihre Forderung: Der Regelsatz im Hartz-IV-Bezug müsse dringend angehoben werden. Um 100 Euro monatlich sei der zu niedrig, haben Fachleute errechnet; selbst die Jobcenter forderten das inzwischen, berichtete Hagen bei einem Pressegespräch des Caritasverbands Rhein-Sieg.

Kritik am Hartz-IV-Regelsatz

„Damit kann man nicht mehr leben“, bestätigt Barbara Köllmann, Caritasbeauftragte in Sankt Augustin. Im Lotsenpunkt Niederpleis suche oft schon zu Beginn des Monats ein Dutzend Menschen an einem Beratungsabend Hilfe, zum Beispiel, weil sie höhere Abschlagszahlungen befürchten. Mit der Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen helfen die Ehrenamtlichen weiter, sehen Stromrechnungen auf mögliche Fehler durch, verhandeln, um Stromsperren zu verhindern.

Was tun?

Spenden für die Caritassammlung und die Projekte anderer Wohlfahrtsverbände sind jederzeit und unabhängig von Sammelaktionen möglich. Die Lotsenpunkte bieten einen niederschwelligen Zugang zum Hilfesystem an, die ehrenamtlichen Lotsen sind dennoch gut ausgebildet. Im Internet gibt es Adressen und Kontaktdaten dazu ebenso wie die der Allgemeinen Sozialberatung. (dk)

Vielen Klienten, „die bislang noch gerade so über die Runden gekommen sind“, begegnet auch Regina Flackskamp, Caritas-Engagementförderin in Troisdorf. Zum Teil sind es Selbstständige, die während der Pandemie aus der privaten Krankenversicherung gefallen seien oder Menschen, die wegen Kurzarbeit ihre Reserven hätten aufbrauchen müssen.

Viele wüssten gar nicht, dass sie Hilfe beantragen könnten. Behutsam bauen die Ehrenamtlichen im Lotsenpunkt den Kontakt auf, versuchen, Struktur in die vielen Probleme zu bringen und in kleinen Schritten einen Weg aus der Krise zu bahnen.

Pfarreien überbrücken schlimmste Not

Beim Jobcenter einen Vorschuss oder neue Leistungen zu beantragen, dauere in der Regel viel zu lang. „Bis dahin ist der Strom abgestellt“, sagt Barbara Köllmann. Mit kleinen Beträgen springen daher manchmal die Pfarrgemeinden ein, um die schlimmste Not zu überbrücken. Damit sie das können, sind sie auf Spender angewiesen, die die derzeit laufende Sommersammlung der Caritas unterstützen.

Wo das Geld hingehe, werden Sammlerinnen wie Christa Engel oder Waltraud Brüggemann oft gefragt. Ihre Antwort: zu 95 Prozent in die Gemeinde vor Ort. 2000 Euro haben Engel und ihre Mitstreiterinnen in Geistingen und Rott zuletzt sammeln können, „es war schon mal doppelt so viel“. Immerhin 7000 Euro konnte Waltraud Brüggemann verbuchen, die in Hennef-Warth die Kasse führt. Manche der Hilfesuchenden im dortigen Lotsenpunkt kennt Brüggemann, es sind aber auch neue Klienten dabei.

Mehr Bedürfige

Immer mehr Menschen seien auf die Unterstützung der Tafeln angewiesen, berichtete auch Barbara Helmich vom Verein für soziale Dienste (SKM), der sechs Tafeln betreibt. Im Januar seien 282 Haushalte gezählt wurden, im März seien es bereits 349 gewesen, im Juni 452.

An den Verein übergab ein Team von Pflanzen Breuer eine Spende von 5000 Euro, die der Tafel in Sankt Augustin zugute kommen soll. 1164 Menschen würden zurzeit versorgt, sagte Helmich, auch mit zugekauften Lebensmitteln. Öl sei inzwischen so teuer geworden, dass einige Haushalte es sich nicht mehr leisten könnten. Gleiches gelte für frisches Obst und Gemüse.

Die Tafel wurde ursprünglich gegründet, damit Lebensmittel nicht weggeworfen werden. Die Idee war, sie an Bedürftige zu verteilen. „Dass wir nun Lebensmittel kaufen müssen, liegt nur daran, dass der Staat sich nicht ausreichend um einige Bürger kümmert und wir deswegen helfen“, betont Helmich. Die Ausgabe der Lebensmittel in Sankt Augustin wurde vom wöchentlichen Turnus wegen fehlender Lebensmittelspenden auf einen zweiwöchentlichen Turnus reduziert. (vr)

Wie auch immer mehr Menschen die Tafeln aufsuchen. So viele, dass dort teilweise schon die Ausgabe reduziert oder über einen Aufnahmestopp nachgedacht werde. „Die Tafeln gehören oft schon zur Lebensplanung“, berichtet Regina Flackskamp. „Dabei sollte es sie eigentlich gar nicht geben müssen.“ Das Existenzminimum zu sichern sei schließlich Aufgabe des Staates.

Das könnte Sie auch interessieren:

In einem so reichen Land, wo jedes fünfte Kind in Armut lebe, wünsche sie sich eine besondere Zeitenwende, sagt Claudia Gabriel vom Fachdienst Gemeindecaritas: „Dass Kinder nicht mehr arm sind.“