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Holocaust-GedenkenWie zwei Sankt Augustiner für die ersten Stolpersteine in ihrer Stadt kämpften

Lesezeit 6 Minuten
Eine Frau und ein Mann stehen vor einem Teich

Kim-Joëlle Kaschub und Kai Baum haben sich für die Verlegung der ersten Stolpersteine in Sankt Augustin eingesetzt.

Es gab keine Holocaust-Opfer aus den Ortschaften und Dörfern des heutigen Sankt Augustin: Das war über viele Jahre die Überzeugung in der Stadt.

Alles begann 2022 bei einer Reise nach Berlin. Kim-Joëlle Kaschub und Kai Baum sind dort öfter, diesmal blieb der Ausflug aber nicht ohne Folgen: „Wir laufen durch Berlin immer zu Fuß. Da stolpert man ja tatsächlich an jeder Ecke über Erinnerungen an den Holocaust“, erzählt Kaschub. Auf dem Rückweg im Auto habe sie dann die Frage in den Raum geworfen: „Sag mal, wieso haben wir in Sankt Augustin eigentlich keine Stolpersteine?“

Kaschub und Baum wohnen bereits ihr ganzes Leben in Menden. Zu Hause angekommen, begannen sie, im Internet zu recherchieren und herumzufragen. Ergebnis: Es gab in Sankt Augustin tatsächlich kein einziges auf den Holocaust bezogenes Denkmal. Dann recherchierten sie zu potenziellen Holocaustopfern im heutigen Stadtgebiet Sankt Augustins.

Holocaust-Opfer gab es überall

Bald fand ein gemeinsamer Freund, der als Studierender der „Holocaust Studies“ (Holocaust-Studien) Zugriff auf zahlreiche Archive hatte, ein Beispiel aus Menden im Rheinland. „Er meinte: ‚Okay, ihr könnt weitermachen - in Sankt Augustin hat es Opfer gegeben‘“, berichtet Kaschub. „Es gibt, glaube ich, kein Dorf in Deutschland, wo es keine Opfer gab – es sei denn, das Dorf gab es zu der Zeit des Nationalsozialismus noch nicht“, fügt Kai Baum hinzu.

Als nächsten Schritt wandten sie sich an die lokale Grünen-Fraktion mit ihrer Frage nach den fehlenden Gedenksteinen. Die Grünen antworteten Kaschub und Baum, dass es nach aktuellen Kenntnissen des Stadtarchivs kein jüdisches Leben in Sankt Augustin gegeben habe.

Vielleicht ist auch jetzt einfach der richtige Zeitpunkt, um zu zeigen: wir haben eine Geschichte, und die ist nicht vergessen.
Kim-Joëlle Kaschub

Im September 2022 nahm das Paar mit dem Siegburger Kreisarchiv Kontakt auf. Nur wenige Tage später schickte Archivleiterin Dr. Claudia Arndt ihnen eine Liste mit 36 Namen von Holocaust-Opfern aus dem heutigen Sankt Augustin. Kaschub und Baum legten diese dem Stadtarchiv vor.

„Ein Großteil der Stolpersteine ist vor allem auf jüdische Opfer fixiert – viele Menschen wissen gar nicht, dass es unglaublich viele Gruppen in der NS-Zeit gab, die verfolgt wurden“, sagt Claudia Arndt im Gespräch. Die Annahme des Stadtarchivs, dass es kein umfassendes jüdisches Leben in Sankt Augustin gegeben habe, sei grundsätzlich richtig. Sie greife hinsichtlich der Stolperstein-Thematik aber etwas zu kurz.

Eine weiße Rose liegt neben einem gold glänzenden Stolperstein, auf dem steht: "hier wohnte Elisabeth Nicolay, JG. 1919, als asozial stigmatisiert, mehrmals verhaftet, 1944 KZ Ravensbrück, Zwangsarbeit Dresden, 1945 Pirna, Schicksal unbekannt"

In Sankt Augustin wurden im November 2024 die ersten Stolpersteine verlegt.

„Eine mögliche Verlegung von Stolpersteinen in Sankt Augustin wurde bereits seit den frühen 2000er Jahren im Stadtarchiv immer wieder erwogen“, teilt Stadtarchivar Michael Korn mit. Es habe jedoch bis vor Kurzem an geeigneten Quellengrundlagen gefehlt, „da abgesehen von sehr vagen Hinweisen keine belastbaren Informationen zu Opfern des NS-Regimes aus dem heutigen Sankt Augustin zu ermitteln waren“.

Die Akten aus dem Kreisarchiv in Siegburg seien dem Sankt Augustiner Stadtarchiv erst seit 2022 zugänglich, erläutert Korn. Es handele sich um Wiedergutmachungsakten aus den 50er Jahren, der Bestand sei erst nach dem Ablauf datenschutzrechtlicher Sperrfristen nutzbar gewesen. Durch die Anfrage von Kim-Joëlle Kaschub und Kai Baum habe das Stadtarchiv den wichtigen Hinweis erhalten, dass mit jenen Akten seit Kurzem eine neue Informationsquelle über Opfer des NS-Regimes zur Verfügung stehe.

Viele Menschen wissen gar nicht, dass es unglaublich viele Gruppen in der NS-Zeit gab, die verfolgt worden sind.
Claudia Arndt, Leiterin des Kreisarchivs

„Laut Archivgesetz dürfen personenbezogene Daten 100 Jahre nach dem Geburtsdatum oder zehn Jahre nach dem Tod einer Person genutzt werden“, sagt Kreisarchivleiterin Claudia Arndt. Die Wiedergutmachungsakten seien also schon lange nutzbar gewesen, seit 2022 aber lägen sie dank ihrer Kollegin Alicia Enterman in besonders detaillierter Aufbereitung vor, so Arndt.

Diese Erschließung der Unterlagen per Datenbank habe dem Stadtarchiv eine systematische Auswertung erst ermöglicht, sagt Michael Korn. Die Auswertung nahm der Historiker Mike Bargel vor, der außerdem Daten unter anderem aus dem Bundesarchiv oder dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalens herangezogen habe.

Wir haben niemanden fahrlässig von der Liste gestrichen, ohne sicher zu sein, dass da bezüglich der Stolpersteine kein positives Ergebnis rauskommen kann.
Stadtarchivar Michael Korn

Schließlich ermittelte das Stadtarchiv drei Personen, für die in Sankt Augustin Stolpersteine verlegt wurden. Die meisten Namen seien aus formalen Gründen von der Liste gestrichen worden, da diese Personen zwischenzeitlich beispielsweise noch einmal umgezogen seien, so Michael Korn: „Stolpersteine werden am letzten frei gewählten Wohnort der Menschen verlegt.“

Es sei sehr unwahrscheinlich, dass basierend auf der Liste mit den 36 Namen noch weitere Standorte für Sankt Augustin in Frage kämen, so der Stadtarchivar: „Wir haben niemanden fahrlässig von der Liste gestrichen, ohne sicher zu sein, dass da bezüglich der Stolpersteine kein positives Ergebnis herauskommen kann.“ Das heiße aber nicht, dass nicht noch andere NS-Opfer durch neue Recherchen gefunden werden könnten: „Deswegen sind wir auch dankbar für Hinweise aus der Bevölkerung – sobald man einen Namen hat, sind die Recherchen deutlich einfacher durchzuführen.“

Zwei Stolpersteine mit den Namen Karoline Kurscheidt und Johann Kurscheidt liegen kurz vor ihrer Verlegung auf dem Bordstein, daneben sind Eimer und Werkzeuge zu sehen.

In Sankt Augustin wurden im November 2024 die ersten Stolpersteine verlegt.

Ende 2023 stimmten der Sankt Augustiner Kulturausschuss sowie der Stadtrat der Verlegung jener drei Stolpersteine einstimmig zu. Am 6. November wurden sie von Künstler Gunter Demnig verlegt. Kim-Joëlle Kaschub und Kai Baum sagen, es sei bedeutend, zu sehen, dass ihr Engagement Früchte getragen habe - dennoch: „Wir haben gesagt, wir geben jetzt nicht auf – wir machen weiter“, so Kaschub.

Die aktuellen Wahlprognosen in Deutschland sehen sie als Anlass dazu. „Vielleicht ist auch jetzt einfach der richtige Zeitpunkt, um zu zeigen: Wir haben eine Geschichte, und die ist nicht vergessen. Wir müssen das weiter aufarbeiten, damit das wirklich nie wieder passiert“, sagt Kaschub. Für den Fall, dass es mit der Finanzierung weiterer Stolpersteine Probleme gebe, habe man bereits herumgefragt: „Wir haben genug Freunde oder Verwandte, die jetzt schon gesagt haben, dass sie etwas spenden würden.“

Sorge vor Anfeindungen: Großeltern waren skeptisch

Auch wenn ihre Familien sie bei ihrem Engagement unterstützten, seien ihre Großeltern, die den Krieg noch miterlebt hätten, sehr skeptisch gewesen, berichtet Kaschub. „Sie haben uns gefragt: ‚Wollt ihr da wirklich mit eurem Namen in der Zeitung stehen? Dann können ja alle wissen, wer ihr seid – nicht, dass ihr angefeindet werdet.‘ Darüber hatten wir überhaupt nicht nachgedacht.“

„Wir müssen ja auch wirklich keine Angst haben“, sagt Kim-Joëlle Kaschub. Für diskriminierte Gruppen sei es wegen der Gefahr von Anfeindungen oft schwerer, sich öffentlich zu äußern. „Vor allem gibt es ja bald keine lebenden Holocaustopfer mehr“, ergänzt Kai Baum. „Wenn wir dann noch einen Politikwechsel eher in die rechte Richtung haben – wer soll sich dann noch um das Gedenken kümmern?“ Beide haben das Gefühl, dass die Erinnerungskultur in Deutschland an Bedeutung verliert. „Und das ist völlig falsch“, betont Baum.

Wenn man so ein Thema aufbringt, muss man auch ehrlich sein und sagen, dass die eigene Familie meistens nicht zu den Guten gehörte.
Kai Baum

Beide seien oft gefragt worden, ob sie selbst Verwandte unter den NS-Opfern aus Sankt Augustin hätten, wenn sie sich so für die Verlegung der Stolpersteine einsetzten. Kaschub und Baum glauben, aus der Perspektive der Täter sei es oft schwerer, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Baum: „Wenn man so ein Thema aufbringt, muss man auch ehrlich sein und sagen, dass die eigene Familie meistens nicht zu den Guten gehört hat.“

Viele Menschen seien fälschlicherweise der Meinung, der Holocaust sei weit weg und könne sich nicht wiederholen, sagt Baum. Vermutlich werde dies in Schulen auch nicht mehr richtig vermittelt. Anders könnten sie sich nicht erklären, warum auch viele junge Menschen Parteien wie die AfD wählten. „Für mich kam es in der Schule nicht wirklich rüber, dass die Nazi-Herrschaft auch in unserer direkten Nachbarschaft stattfand“, sagt Kai Baum, „und dass es Rassismus und Diskriminierung auch heute gibt und man da den Mund aufmachen sollte.“