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100 Jahre danachSo erlebte der Rhein-Sieg-Kreis seine Besatzer im Jahr 1918

Lesezeit 4 Minuten

Ein Posten an der Grenze zwischen Mitteldorf (Neunkirchen) und Kranüchel (Much) im Jahr 1919

  1. Am 12. Dezember 1918, gut einen Monat nach dem Waffenstillstand vom 11. November, wurde Siegburg besetzt
  2. Die Bräuche der Besatzer verwunderten die Bevölkerung
  3. Ein Lehrer beschrieb die Verwüstung an seiner Schule

Rhein-Sieg-Kreis – Die kanadischen Besatzungssoldaten durchsuchten alles in der Grundschule in Schönau. Sie brachen die Schubladen der Lehrerpulte auf, schleuderten wahllos Bücher aus den Regalen. Mit den Schreibheften der Schüler wurde der Ofen angezündet.

Gut einen Monat nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 kamen Besatzungssoldaten auch in die Region: Am 12. Dezember 1918 wurde Siegburg besetzt, am 13. Dezember zog dann die englische Kavallerie durch Seelscheid, um die Grenzlinie am Brückenkopf Köln zu besetzen. Elf von 19 Bürgermeistereien wurden besetzt: Neunkirchen, Lauthausen, Hennef, Sieglar, Troisdorf, Menden, Wahlscheid, Lohmar und Oberkassel – dieses Gebiet war 35 000 Hektar groß und hatte 83 000 Einwohner.

Soldaten lebten in Schulräumen

Für die Soldaten wurde ein Barackenlager im Wald zwischen Siegburg und Lohmar errichtet; bis zur Fertigstellung mussten die englischen Soldaten jedoch vorerst in Bürgerwohnungen und eben Schulräumen untergebracht werden.

Ein Lehrer der Schule in Schönau erinnert sich an einen Vorfall vom 14. Dezember 1918. Der Heimat- und Geschichtsverein Neunkirchen-Seelscheid stellte Auszüge aus seinem Eintrag in der Schulchronik zur Verfügung: Am Mittag erschien ein kanadischer Quartiermeister, der die Schule belegte. Selbst die hinteren Zimmer der Lehrerwohnung wurden beschlagnahmt. Gegen sechs Uhr abends erschienen die Besatzungstruppen von Neunkirchen her kommend. Sie zogen in die Schule ein und verwüsteten die Klassenräume.

Kochen von morgens bis abends

Der inzwischen verstorbene Leo Lammert berichtet von Erzählungen seines Großvaters aus dieser Besatzungszeit. Das Haus der Familie in der Hauptstraße 49 war mit vier Burschen besetzt, die sofort die Küche mit Herd beschlagnahmten. „Sie kochten von morgens bis abends.“ Ein Offizier sicherte sich die gute Stube und das Schlafzimmer.

Die kanadische Infanterie blieb bis zum 28. Dezember in Neunkirchen, Engländer und Schotten lösten sie ab. „Die Schottländer hatten keine Hose, sondern einen Rock bis eine Handbreit übers Knie, dann Knie und Beine nackt bis über die Strümpfe“, so der Zeitzeugenbericht. Auch andere Dinge verwirrten: Das Fußballspiel zum Beispiel, zu dem sich die fremden Soldaten regelmäßig auf den Viehweiden trafen. Nur in Hemd, Badehose und in besonderen Schuhen. Alle Dorfkinder standen um das Spielfeld herum und schauten zu, aber: „Aus den Spielregeln werde ich nicht schlau“, schrieb Lammerts Großvater.

Florierender Schmuggel

Leo Lammert erzählt davon, dass in dem Haus seines Großvaters auch Amtsgeschäfte abgehalten worden seien. Einmal habe „halb Hermerath auf der Terrasse gestanden“. Die Einwohner hätten Milch über die Belastungsgrenze geschmuggelt. Sogar „der Milchwagen aus Seelscheid mit lauter Frauensleuten“ wurde später gebracht. Es sei lautstark auf Deutsch und Englisch verhandelt worden. Der florierende Schmuggel „von Zigaretten und Tabak in zweispännigen Wagen über die Grenze“ nach Much sei nach dem Abzug der Besatzungstruppen am 8. November 1919 total eingebrochen. „Es wurde wieder still in Neunkirchen“, so der Chronist.

Am 13. Dezember rückten in Troisdorf britische Besatzer ein, die 1919 durch kanadische Truppen abgelöst wurden. Am 19. und 20. Februar 1920 folgte den Kanadiern das 97. französische Infanterieregiment „Alpini“.

Die Mannschaften wurden in den Arbeiterbaracken auf dem Gelände der Rheinisch-Westfälischen Sprengstoffwerke untergebracht. Für die Offiziere wurden sieben Häuser in der Emil-Müller-Straße gebaut, die heute noch existieren.

Ausweisung wegen einer Rede

Ein Teil der Franzosen wurden Juli 1920 nach Düsseldorf verlegt. Ihnen folgten als Ersatz marokkanische Soldaten. Die letzten französisch-marokkanischen Soldaten zogen nach sieben Besatzungsjahren 1926 ab. „1923 wurde übrigens der Troisdorfer Bürgermeister Wilhelm Klev von den Franzosen für ein Jahr ausgewiesen, nachdem er eine patriotische Rede gehalten hatte, die den Franzosen missfiel“, berichtet Peter Haas vom Heimat- und Geschichtsverein.

In Siegburg wurde das Gefängnis 1918 von britischen Truppen beschlagnahmt und das Haus 1 als Kaserne genutzt, so berichtet das NRW-Justizministerium in einem Rückblick auf das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Besatzer blieben dort nicht lange. Im Jahr 1919 wurde die beschlagnahmte Anstalt schon wieder geräumt. Sie musste dann allerdings saniert werden, bevor wieder Gefangene in den Zellen untergebracht werden konnten.

Aufzeichnungen im Archiv

Im historischen Archiv der Stadt Siegburg finden sich Aufzeichnungen des früheren Priors Liborius Hardebusch über die Besatzung Siegburgs nach dem Ersten Weltkrieg und die einhergehende Okkupation des Klosters auf dem Michaelsberg. „Viele Besucher des Berges, die mit den Verhältnissen nicht vertraut waren, getrauten sich nicht, an den unheimlichen schwarzen, braunen oder gelben Posten mit aufgepflanztem Seitengewehr vorbei, durch den Torweg zum Kloster oder zur Kirche zu gehen.“

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Am 1. Februar 1920 zogen die französischen Truppen nach den Engländern ein. Bis zu 1500 Soldaten lebten zu jenem Zeitpunkt schon in der Stadt. Bei ihnen handelte es sich zum größten Teil um Kolonialtruppen aus Nordafrika, das 28. Tunesische Tiralleur-Regiment zählte in der ersten Hälfte der 20er-Jahre dazu. Viele Siegburger sahen damals das erste Mal in ihrem Leben Schwarze. Erst am 29. Januar 1926 zogen nachmittags die letzten französischen Besatzungstruppen ab. In Siegburg läuteten die Glocken, die Bevölkerung feierte.