Jugend in der NachkriegszeitWindecker berichtet übers Hamstern fürs Überleben
Windeck – Das Leben in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war hart, besonders für die Kinder auf dem Land. Sie wurden bis in die 50er Jahre hinein eingespannt in die Beschaffung von Nahrungsmitteln, wie Frieder Döring in seinem spannenden neuen Buch „Wind aus allen Ecken“ schildert.
Kinder und Jugendliche mussten helfen beim Ernten in Gärten und auf den Feldern, beim Beeren- und Pilzesammeln. Junge Brennnessel mussten sie schneiden und Scharbockskraut abrupfen, das als Salat gegessen wurde.
Und auch bei der Schädlingsbekämpfung wurden sie eingesetzt: Sie mussten Kartoffelkäfer per Hand von den Pflanzen ablesen, weil die Tiere immer mehr zur Plage wurden. Wenn sie verbrannt wurden, stank das fürchterlich.
Hamstern, Fringsen und Fischen überlebenswichtig
An der Nahrungsbeschaffungsfront habe es drei wesentliche Tätigkeiten gegeben, schreibt Döring: Hamstern, Fringsen und Fischen. Beim Hamstern wurden Lebensmittel bei den Bauern in den umliegenden Dörfern gegen Haushaltsgegenstände und Schmuck eingetauscht. Die Kinder mussten dabei sein, weil sie Mitleid erregten und außerdem die Beute schleppen sollten.
Zur Person
Frieder Döring, mit vollem Namen Hans Friedrich Heinrich Franz Georg Döring, wurde 1942 in Dattenfeld an der Sieg geboren, das heute zur Gemeinde Windeck gehört. Von Kindheit an wurde er Frieder genannt. Er wuchs in Schladern auf, studierte in Freiburg, Bonn und Düsseldorf Medizin und kam 1973 als Hautarzt nach Troisdorf.
2005 zog Döring mit seiner Familie wieder nach Schladern, wo er heute noch lebt. Döring ist verheiratet, Vater von sechs Kindern, er hat zehn Enkel und ist auch schon Urgroßvater.
Neben seiner Arbeit in der Praxis leistete er von 1992 bis 2002 Einsätze bei den Ärzten für die Dritte Welt (heute German Doctors). Er veröffentlichte zahlreiche heimatkundliche Bücher, wissenschaftliche Arbeiten und literarische Werke. Noch heute engagiert er sich bei der Windecker Kulturinitiative. (rö)
Zum Hamstern gehörte auch „Kötten“, also inständiges Bitten oder Betteln. Auf den damaligen Kölner Kardinal Josef Frings geht der Begriff „fringsen“ zurück, weil er 1946 den Mundraub und speziell den Kohlediebstahl von Güterzügen für sündenfrei erklärte.
Mancher Lokführer fuhr extra langsam
Beim Transport von Kohle aus dem Ruhrgebiet zu den Hüttenwerken im Siegerland seien manche Lokführer sogar besonders langsam gefahren, berichtet Döring. Dadurch wurde es den größeren Jugendlichen möglich, auf die Ladeflächen der Züge aufzuspringen und Kohle herabzuschaufeln, die dann von den kleineren Kindern aufgesammelt wurde.
Auch Erwachsene halfen bei den Aktionen. Beliebt bei Kindern und Jugendlichen war auch das Fischen mit der Hand in Bächen oder mit selbst gebastelten Angeln an der Sieg. Sich Streiche auszudenken war normal im Alltag der Kinder, die nach dem Krieg hauptsächlich draußen spielten. Dazu gehörte auch das „Teufelsgeigenspiel“, wie Döring erzählt.
Dabei banden die Kinder einen feinen Draht am Küchenfenster anderer Häuser sowie dem Zaun oder einem Pfahl fest und erzeugten auf diesem mit Hilfe eines Geigenbogens schaurige Töne. Die Hausbewohner hatten natürlich keine Erklärung, woher die Klänge kamen, und die Kinder hatten ihren Spaß.
Gefährliche Spiele mit Weltkriegsmunition
Weitaus gefährlicher waren die Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen, die beim Spielen Blindgänger und Munition aus dem Krieg fanden und diese anschließend zerlegten. Mit dem Pulver bastelten die Kinder eigene Bomben und zündeten sie in Steinbrüchen.
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Döring selbst gehörte in seiner Kindheit zur Abteilung „Jugend forscht“, wie er heute schreibt. Von seinen Eltern erhielt der Junge einen Chemiebaukasten geschenkt und experimentierte mit Kalium, Natrium, Schwefelsäure, Phosphor oder Quecksilber. Döring schreibt dazu: „Das waren alles Dinge, die man heute nicht mehr googeln darf, wenn man nicht ein Sonderkommando der Polizei vor der Tür stehen haben will.“
Kaum vorstellen kann man sich heute den Unterricht in den Schulen in Dörings Kindheit. In den Volksschulen waren acht Klassen in einem einzigen Raum untergebracht. Trotz der großen Notlage habe er eine schöne Kindheit gehabt, betont der Autor, der in weiteren Kapiteln die Geschichte von Schladern und interessante Berichte seiner Familie nacherzählt. Übrigens erklärt er auch den berüchtigten „Schloadoner Wönkt“ (Mundart), den berühmten Schladerner Wind sowie neben der Geschichte der Burg Windeck auch die Herkunft des Ortsnamens Schladern.
„Wind aus allen Ecken“ von Frieder Döring (ISBN 978-3-943580-41-9, 230 Seiten) ist im Roland Reischl Verlag erschienen. Für 15 Euro ist es im Buchhandel in Rosbach sowie im Tourismusbüro Schladern zu haben.